Haskala Nr.1:
"Gedenken" - Die Schoa im jüdischen
Religionsunterricht
Der nationalsozialistische Völkermord
Das große
Interesse jüdischer
Jugendlicher, mehr über die
Gräueltaten der Nationalsozialisten
und über das jüdische
Schicksal vor 60 Jahren zu
erfahren, möchte das erste Heft
der neuen Reihe "Haskala" deutlich machen und dabei aufzeigen,
dass der Umgang mit diesem Thema
auch heute für junge Juden in Deutschland
höchst problematisch ist und wie
ihnen das Lernen erleichtert werden
kann.
Herausgeberin ist Nurith Schönfeld-Amar M.A., geb. 1971 in Köln.
Nach dem Studium der Judaistik und Pädagogik in Heidelberg, Ramat-Gan (Israel) und
Köln, sowie dem Studium der Vergleichenden Religionswissenschaften an der
Universität Bonn, ging sie
1994/95 als Stipendiatin des Looksteincenters für Jüdische Religionspädagogik in
der Diaspora an die Bar-Ilan Universität in Israel.
1999 Magister Artium in den Fächern Judaistik, Pädagogik und Vergleichende
Religionswissenschaften an der Universität Köln.
Danach Mitarbeiterin der Lehrplankommission zur Überarbeitung des Lehrplans für das
Fach Jüdische Religionslehre der Sek.II in NRW.
Seit 1999 ist Nurith Lehrerin für das Fach Jüdische Religionslehre der Sekundarstufe I
und II in Köln.
Versuche des
Verstehens
im Unterricht
Von Nurith Schönfeld-Amar
Weil es so schwierig ist, zu diesem
Thema Unterricht zu gestalten, wird
auch in den jüdischen Gemeinden das
Thema oftmals verdrängt. Man hat
Angst, zu emotional zu werden, die
Juden nur als Opfer und schwach darzustellen,
wohingegen man doch gerade
in der jüdischen Gemeinschaft
Selbstbewusstsein vermitteln möchte,
so dass sich dann neuzeitliche Themen
wie die Geschichte des Zionismus viel
besser anbieten.
Schüler und Schülerinnen der Klassen
9 und 10 haben sich jedoch im letzten
Halbjahr von sich aus das Thema
"Schoa" für den Jüdischen Religionsunterricht
gewünscht, weil sie mehr
über die Geschehnisse der Vergangenheit
wissen wollten. Ein Grund war
auch, dass der Religionskurs ihnen die
Möglichkeit bietet, im Gegensatz zum
Unterricht in der Schule, in einer Klasse
mit ausschließlich jüdischen Mitschülern
zu lernen. Es ging am Ende gar
nicht um Fakten, Zahlen, Daten und
spezielle Ereignisse, sondern um die
Möglichkeit, gerade (oder nur) in diesem
Kreis unverkrampft und ohne
Hemmungen Fragen stellen zu können.
Wichtig ist Wissen über die Schoa
für jüdische Schüler und Schülerinnen
in Deutschland, weil darüber im Schulunterricht
gesprochen wird. Im
Geschichts- wie im Deutschunterricht
kommt das Thema Drittes Reich und
der Nationalsozialismus oft vor. So erleben
diese Schüler und Schülerinnen in
der Schule immer wieder unangenehme
Momente, in denen sie vom Lehrer als
Jude angesprochen werden und die
Klasse auf ihn oder sie als Jude blickt.
Das sind diese Momente, in denen
im Geschichtsunterricht über die Endlösung
geredet wird oder im Deutschunterricht
ein Buch gelesen wird, in
dem ein Jude vorkommt. Dann muss
"der Jude der Klasse" erklären, was der
Holocaust bzw. die Schoa ist, Details
der jüdischen Geschichte wiedergeben,
jiddische Termini übersetzen u.ä..
Aber woher sollen Jugendliche auf
all dies eine Antwort wissen? Nur aufgrund
der Tatsache, dass ein Großvater
oder eine Tante in Auschwitz vergast
wurde? Muss ein Kind oder ein Jugendlicher
deshalb alles darüber wissen?
Nein, - denn gerade in diesen Familien
wird oftmals nichts erzählt und über die
Vergangenheit geschwiegen!
Es ist ausgesprochen wichtig, dass
sich Lehrer und Lehrerinnen in den
Schulen bewusst werden, dass jüdische
Jugendliche sich bei diesen Themen in
der Klasse sofort anders und unwohl
fühlen. Anders fühlen sie sich, weil sie
sich mit den Opfern identifizieren im
Gegensatz zum Rest der Klasse. Den
einzigen jüdischen Schüler oder Schülerin
dann vom Lehrer zum Experten zu
ernennen, bewirkt in ihm oder ihr nur
das Gefühl, Anwalt der Opfer zu sein,
der auf der "anderen Seite" steht und
somit nicht mehr zum Klassenverband
gehört. Er oder sie wird in dieser Unterrichtssituation
nur durch die Tatsache
des Jüdischseins anders und damit ausgeschlossen.
Man wird zum Juden, auf
den alle schauen, wie einst die Großeltern
oder Urgroßeltern.
Außerdem ist es ein großer Fehler
zu glauben, dass jüdische Schüler einen
Wissensvorsprung im Vergleich zu
ihren nichtjüdischen Mitschülern
haben, denn, wie erwähnt, redet man
gerade in jüdischen Familien häufig
nicht gerne über diese Zeit, und Kinder
und Jugendliche lernen schnell, dass
man über dieses Thema besser zuhause
keine Fragen stellt. Dies kann verschiedene
Gründe haben. Es gibt Familien,
in denen sonst zu viele schlimme
Erinnerungen wiederkehren würden, in
anderen Familien gilt das Thema als
unangenehm, und manche Eltern wissen
oftmals selber nicht viel, denn ihre
Eltern wiederum haben ihnen auch
nichts erzählt, weil sie nicht wissen bzw.
wussten, wie sie Dinge der Vergangenheit
ihrer eigenen Familie erklären sollen.
Dies kommt oftmals daher, dass die
Erlebnisse und Erinnerungen an die
Schoa mit Gefühlen schlimmster
Demütigung zusammenhängen. Viele
Schoaüberlebende machen sich eigene
Vorwürfe, vor allem wenn sie Verwandte
haben sterben sehen und aus Angst
oder Ohnmacht nicht geholfen haben.
Darüber zu sprechen ist schmerzlich,
aber auch vielen unangenehm. Die
Juden, die in den KZs oder Ghettos um
ihr Überleben kämpften, waren einer
extremen Ausnahmesituation ausgesetzt,
in der allgemeine moralische Prinzipien
nicht mehr eingehalten werden
konnten. Die Opfer, die vor dem Krieg
moralisch und zivilisiert lebten haben
Schwierigkeiten damit, ihren Kindern
oder Enkelkindern zu erzählen, wie sie
haben lügen oder stehlen müssen, wie
sie den Tod anderer vielleicht hingenommen
haben, um ihr eigenes Leben
zu retten. Frauen wurden dazu gebracht
ihre Babys zu ersticken, weil sie und
ihre Gruppe durch das Weinen gefunden
und alle mit ihnen umgebracht worden
wären. Die Opfer schämen sich.
LehrerInnen sollten dies bedenken,
wenn sie einen jüdischen Schüler oder
Schülerin in der Klasse befragen, da sie
nicht wissen können aus welchem familiären
Hintergrund der Schüler stammt.
Man beachte außerdem, wie sich dieser
fühlen muss, wenn er als Jude keine
Antwort geben kann?
Um Antworten auf eigene Fragen
zu erhalten kann der Unterricht in einer
homogen jüdischen Klasse sehr wichtig
sein, da den SchülerInnen die Hemmungen
leichter genommen werden
können,Fragen zu stellen und Nichtwissen
einzugestehen. Somit kann der
Religionsunterricht der Gemeinden
auch eine Hilfe für die Eltern sein. Der
Unterricht kann die Gespräche mit der
eigenen Familie vorbereiten und
erleichtern.
Oftmals ist der Besuch eines KZ's
mit jüdischen Freunden im Rahmen
einer Studienfahrt des Jugendzentrums
oder der Religionsschule für Jugendliche
angenehmer als mit den eigenen
Eltern.Vorbereitet (!) auf das, was man
sehen wird, fließen trotzdem meistens
Tränen. Bei einem Besuch mit den
Eltern wollen Jugendliche häufig
erwachsen und reif wirken, um ihren
Eltern u.a. nicht das Gefühl zu geben,
dass das Thema für ihr Alter doch noch
zu "schwierig" ist. Jüdische Jugendliche
stattdessen nehmen sich gegenseitig in
den Arm, weinen ungeniert und ziehen
sich in kleineren Gruppen zurück.
Durch gemeinsame Gedenkzeremonien
am Ort wird das Gruppengefühl
gestärkt und die Jugendlichen bekommen
die Möglichkeit etwas zu tun, vor
allem Symbol des nicht vernichteten
Judentums zu sein.
Doch auch im Regelunterricht in
der Schule kann der Lehrer eine Atmosphäre
des Lernens gestalten, in der
auch ein jüdischer Schüler keine Scham
empfinden muss, Fragen zu stellen.
Es ist wichtig, dass der Lehrer nichts
als bekannt voraussetzt und womöglich
in der Einführung zum Unterricht
äußert, dass jeder über das Thema
eigentlich schon Bescheid wissen muss.
Hausaufgaben, die die Befragung der
eigenen Familie fordern und vielleicht
noch einen Vortrag vor der Klasse beinhalten,
um von jedem die Familiengeschichte
zu erfahren, treffen bei jüdischen,
aber auch bei bestimmten nichtjüdischen
Familien, auf Unbehagen,
was sich auf die Jugendlichen überträgt.
(Eltern berichten, dass diese Hausaufgaben
mit Vorliebe bei Fünf- und
Sechsklässlern im Fach Deutsch oder
Geschichte vorkommen).
Es ist gut, Opfern wie Tätern im
Unterricht Gesichter zu geben, aber
diese Person soll niemand aus der Klasse
sein. Zeitzeugen, die man einlädt,
von ihren Erfahrungen zu berichten,
kommen von außen, und die mit dem
Zeitzeugen geführten Gespräche in der
Klasse sind erfahrungsgemäß auch ein
sehr beeindruckendes positives Erlebnis
für jüdische Schüler.
Der Besuch eines Konzentrationslagers
im Klassenverband sollte mit
einem jüdischen Mitschüler vermieden
werden. So stark sich dieser auch vor
dem Besuch fühlt und "weiß, was ihn
erwartet", desto mehr wird er von sich
selbst womöglich schockiert sein, wie er
in der Realität reagiert. Wenn Tränen
fließen und dies passiert meistens,
schon aufgrund der hohen emotionalen
Anspannung - dann fühlt der jüdische
Schüler oder die Schülerin sich beobachtet
und Lehrer wie Mitschüler wissen
nicht wie sie sich verhalten sollen:
trösten, in Ruhe lassen? Auch eine gute
Verarbeitung nach dem Besuch des
KZs kann nur schwer erfolgen.
Als LehrerIn sollte man sich für das
Thema Schoa auf die Ebene der Schüler
begeben und mit ihnen gemeinsam lernen
anstatt sie zu belehren. Der Vorteil
des gemeinsamen Lernens und der
gemeinsame Versuch des Verstehens ist,
dass der Lehrer sich selbst nicht beobachtet
fühlen muss und jedes seiner
Worte von Seiten der Schüler interpretiert
wird.
Wichtig ist, dass ein Lehrer es schafft,
bei dem Thema Schoa und Nationalsozialismus
jüdischen Schülern das
Gefühl zu geben, zur Klasse zu gehören
und Ausgrenzung von seiten von Mitschülern
zu unterbinden wie bei allen
anderen Fächern und Stunden auch.
Das Gefühl von Vertrauen,Verständnis
und Geborgenheit ist immer die wichtigste
Voraussetzung für guten Unterricht.
Kontakt:
haskala_bildung@yahoo.de
hagalil.com / 2004-01-25 |