Klassenstufe: 9 bis 13
Zeitaufwand: 1 Unterrichtsstunde, je nach Verarbeitung mehr
Thematik: Schicksal eines 14-16jährigen Jungen
Leben in der Grenzsituation des Ghettos
Lernen und Ziele
Geistige und moralische Selbsterziehung" und Entwicklung der Kinder
Zerstörung einer FamiliePersönliche Dokumente,
Texte und Zeichnungen von Petr Ginz zeigen uns ein begabtes Kind und machen
deutlich, wie Unrecht und Gewalt in das Leben der Menschen eingegriffen
haben und wie Petr, reif für sein Alter, damit fertig zu werden und mit
Würde zu bestehen versuchte.
Petr Ginz:
Ein Junge aus Prag in Theresienstadt
Petr Ginz wurde am 1. Februar 1928 in Prag geboren. Seine
Mutter hatte seinen Vater auf einem Esperantisten-Kongreß kennengelernt. Sie
war keine Jüdin, hat aber einen jüdischen Haushalt geführt, wie sie es von
ihrer Schwiegermutter gelernt hatte.
Petr besuchte die jüdische Schule mit tschechischer
Unterrichtssprache, bis die Schule geschlossen wurde und die Kinder keinen
Unterricht mehr haben konnten. Eine Zeitlang lernte er in der Jüdischen
Gemeinde das Reinigen von Schreibmaschinen und kleine Reparaturen. Als die
Transporte von Juden nach Theresienstadt begannen, half Petr Alten und
Schwachen beim Tragen ihres Gepäcks.
Im Oktober 1942 wurde er selbst nach Theresienstadt
deportiert. Seine Schwester Eva traf ihn, als sie selbst nach Erreichen des
vierzehnten Lebensjahres (als Kind aus einer Mischehe") im Mai 1944 dorthin
transportiert worden war. Aus ihrem Theresienstädter Tagebuch:
16. September 1944: [...] Petr war krank, hatte 39°
Fieber. In Theresienstadt gibt es jetzt so eine Epidemie. Fieber, dabei
schmerzt einen nichts. Ich hatte große Sorgen, ob er nicht so etwas erwischt
hat, wir sind doch nur wir zwei hier, Petr und ich, und wenn ihm etwas
zustoßen würde, wie könnte ich das vor den Eltern verantworten.
27. September: Also Petr und Pavel / sein Vetter / sind im Transport. [...]
28. September: Der Zug ist schon hier und die beiden Jungen sind bereits
eingestiegen. Petr hat die Nummer 2392 und Pavel 2626. Sie sind in einem
Waggon beisammen. Petr ist phantastisch ruhig, Onkel Milos hat ihn
bewundert. Ich habe ständig gehofft, der Zug wird nicht kommen, obwohl ich
das Gegenteil wußte. Aber was kann man machen? [...] Es war ein
schrecklicher Anblick, bis an mein Lebensende werde ich ihn nicht vergessen.
Rings um die Kaserne drängte sich ein Haufen von Frauen, Kindern und
Greisen, um noch einmal den Sohn, Mann, Vater oder Bruder zu sehen. Die
Männer neigten sich aus den Fenstern, schoben einer den anderen beiseite,
jeder wollte noch seine Lieben sehen. Die ganze Kaserne war von Gendarmen
umstellt, damit niemand davonlief. [...] Jetzt sind die Jungen fort und uns
sind von ihnen nur die leeren Pritschen geblieben.
12. Oktober: Heute sind es schon vierzehn Tage, seit die Jungen weggefahren
sind, und noch kam keine Nachricht von ihnen.
23. April 1945: [... Auf dem Bahnhof Waggons:...] Sie kamen aus Buchenwald
und Auschwitz [...] Jedem Transport, der nach Birkenau kam, wurde alles
abgenommen und er wurde gleich aussortiert. Kinder bis zu vierzehn Jahren
und Menschen über Fünfzig wurden sofort in die Gaskammern gebracht und dann
verbrannt. Außerdem suchten sie unter den übrigen Menschen ständig noch
Leute aus, um sie zu vergasen. Und miserables Essen! Kaffee, Suppe, Kaffee.
Ich würde das alles gar nicht glauben, wenn es mir nicht Menschen erzählen
würden, die es selbst erlebt haben. Ich habe solche Angst, was mit Peterchen
ist, ob er überhaupt noch lebt."
(Ist meine Heimat der Ghettowall? Gedichte, Prosa und Zeichnungen der Kinder
von Theresienstadt. hrsg. von Marie Ruth Krízková, Kurt Jirí Kotouc, und
Zdenek Ornest. Hanau 1995, S. 72ff.)
Baustein 9
In Februar 1945 noch wurde auch Petrs Vater nach
Theresienstadt gebracht, er konnte das Lager zusammen mit Eva am 5. Mai
verlassen und nach Prag zurückkehren. Petr kam nie zurück und ist wie Pavel,
dessen Vater Milos (der jüngste Bruder und weiter die gesamte Familie des
Vaters) in einem Vernichtungslager umgekommen. Eltern und Schwester lebten
später in Israel.
Petr Ginz las, schrieb und zeichnete gern. Schon in Prag während der
Okkupation schrieb er einen Roman, eine Ergänzung der Bücher Jules Vernes,
in dem eine Gruppe von Menschen in Afrika ein Ungeheuer herstellt, ein
Reptil, mit dem sie ganz Afrika beherrschen will (Besuch aus der Urwelt").
Die Schwester erinnerte sich und deutete die Thematik später so:
Es steckte mehr darin. Das Ungeheuer und der Imperialismus seiner
Hersteller erinnert mich allzu sehr an Hitler. Petr war wahrscheinlich der
Ansicht, daß Verne, der so viele scheinbar unmögliche Begebenheiten
ausgedacht und vorausgesagt hat, keine so starke Vorstellungskraft haben
konnte, um an Hitler zu denken, und daß es notwendig ist, hier etwas zu
ergänzen. Oder vielleicht wollte Petr als Kind selbst das Gefühl haben, daß
das, was auf der Welt mit ihm geschieht, nicht die Wirklichkeit ist, sondern
nur Teil irgendeines phantastischen Romans."
Ist meine Heimat der Ghettowall? Gedichte, Prosa und Zeichnungen der Kinder
von Theresienstadt. hrsg. von Marie Ruth Krízková, Kurt Jirí Kotouc, und
Zdenek Ornest. Hanau 1995, S. 71f.
In Theresienstadt kam Petr Ginz ins Gebäude L417, eine ehemalige Schule, in
dem die Kinder in zehn Heimen" nach Geschlecht und Altersstufen
untergebracht waren. Die Jungen im Heim I, in dem Petr lebte, nannten ihre
Gemeinschaft selbst Republik Schkid" (vgl. Baustein 9 Kinder u.
Jugendliche in Theresienstadt") und gründeten am 18. Dezember 1942 feierlich
eine Selbstverwaltung, die sogar eine eigene Hymne und eine eigene
Zeitschrift hatte. VEDEM (Vgl. Baustein 9) kam jede Woche heraus, und Petr
Ginz war einer der fleißigsten Mitarbeiter in den folgenden zwei Jahren.
Alle hier abgedruckten Texte wurden in VEDEM veröffentlicht.
Dazu kommen noch Auszüge aus seinem Tagebuch, seinen Plänen" (seinen
Vorsätzen für künftige Arbeiten) und seinen Ausweisen", in denen er
festhält, was er in der letzten Zeit gelesen, gelernt und gezeichnet hat.
Arbeitshinweise:
- Mit Hilfe anderer Bausteine die Lebensbedingungen im Ghetto Theresienstadt
erarbeiten.
- Eine Charakteristik des Jungen schreiben
- Seine Beiträge in VEDEM untersuchen
Die folgenden Quellen entstammen Ist meine Heimat der Ghettowall? Gedichte,
Prosa und Zeichnungen der Kinder von Theresienstadt. hrsg. von Marie Ruth
Krízková, Kurt Jirí Kotouc, und Zdenek Ornest. Hanau 1995, S. 26, 69f.,
64ff., 134f., 76f.
Barbara Heckel
Erinnerung an Prag
Wie lange ist es her
daß ich zum letzten Mal
die Sonne über dem Laurenziberg
still untergehen sah.
Ich küßte Prag durch Tränen,
auch im Abendschatten war es mir nah.
Wie lange hat mein Ohr nicht mehr
das liebliche Rauschen der Moldau vernommen?
Die Hast des Wenzelsplatzes fehlt mir sehr -
All dies hat die Zeit mir genommen.
Die ungezählten Winkel von Prag
im Schatten der Schlachtbank und der Sackkanäle
leben sie, erwarten auch für mich einen neuen Tag
nach diesem langen Jahr und der Trauer in meiner Seele.
Beinahe ein Jahr schon hock` ich in diesem Loch,
dein Liebreiz ist fern, hier sind häßlich die Gassen.
Bin wie ein Tier hinter Gittern und doch -
der Gedanke an dich, mein Märchenprag,
wird auch hier mich nie verlassen!
Brief an die Familie
Ein ganz dünner (transparenter) Streifen, den Petr
heimlich und völlig unzensiert schickte - undatiert:
Lieber Vater, Mutter und Eva,
Mir geht es immer noch gut, obwohl nicht mehr so wie
früher. In dieser Hinsicht müßt ihr also um mich keine Sorgen haben. Ich
hoffe, ihr habt die Marke für das Paket erhalten. Schickt bitte irgendwelche
Lutschbonbons für Oma (sie hat nämlich Husten), mir schickt Gummiarabikum,
ein paar Hefte, einen Eßlöffel, ein Geschirr, Brot und ein paar Gravüren.
(Alles ist hier nämlich so neu, die Pritschen, die Straßenbenennung, der
ganze Beamtenapparat, und deshalb hätte ich gern etwas Altes hier, das mich
zudem noch an die Zeiten erinnert, da ich mit euch war und die Gravüren
kolorierte.) Die Zeitschrift, die ich redigiere, erscheint immer noch. Ich
schreibe für sie Geschichten ernsten Inhalts, manchmal pfusche ich sogar in
Philosophie. Ansonsten besuche ich die Quinta. Das Lernen geht gut. In einer
Woche sollen wir Prüfungen haben. Was meine materiellen Angelegenheiten
anbelangt: Ich gehe jeden Abend zu Oma, die mir immer etwas zu essen gibt.
Auch von Onkel bekomme ich oft etwas zu beißen. Zu den Schuhen: Auf der
Pritsche neben mir wohnt ein Junge, der in der Schusterei arbeitet. So daß
für meine Schuhreparaturen gesorgt ist. Zur Kleidung: den braunen Anzug kann
ich nicht mehr tragen, jetzt trage ich die Hose, die ihr mir geschickt habt,
und Vaters wattierte Weste. Vor drei Wochen gab es auf unserem Zimmer
Kinderlähmung. Wie alle bekam auch ich eine Injektion mit dem Blut
irgendeines erwachsenen Menschen. Rudo Freundenfeld hat es mir gegeben.
Jetzt hat es, Gott sei Dank, keine neuen Fälle mehr gegeben.
Kuß von Petr
Schickt mir irgendein Buch über Soziologie
Aus Petrs Tagebuch
Nach langen Überlegungen habe ich mich entschlossen, ein
Tagebuch zu schreiben. Einerseits tue ich dies für Mancinka [so nannte Petr
seine Mutter], für Vater und Eva, denen ich auf einer Karte nicht all das
schreiben kann, was ich möchte, weil ich das erstens gar nicht darf,
zweitens gar nicht so gut Deutsch kann. [Post mußte deutsch geschrieben
sein, damit sie zensiert werden konnte.] Dann schreibe ich auch für mich, um
die Menge von Begebenheiten und Typen nicht zu vergessen, mit denen ich in
Berührung gekommen bin.
8.II.1944:
... dann ging ich nach Hause, kam gerade zur Stilübung zurecht, ... Ich
wählte das erste Thema und schrieb über Beschimpfungen. Dann versuchte ich,
die Geometrie zu Ende zu schreiben, aber irgendwie geht das nicht. Und so
liege ich nun und schreibe, weil sich das flimmernde Licht ein wenig
stabilisiert hat. Jetzt höre ich aber auf und werde schlafen, denn es ist
schon fast halb elf. Cuml unterhält sich mit Kalíek über Literatur und
umgekehrte Wortfolgen. Ich ... lege mich nieder. Denke daran, was wohl meine
Lieben in Prag tun. Eva kann ich mir gar nicht mehr richtig vorstellen.
Aus Petrs »Ausweisen«
Juni(1944):
Ich bin in der Lithographie angestellt. Habe eine physikalische Karte Asiens
gemacht und eine Weltkarte nach der Projektion begonnen.
Gelesen: Otáhalová-Popelová: Seneca in Briefen, Arbes: Der verrückte Hiob,
Mein Freund der Mörder, Der Teufel, London: Das verlorene Gesicht, Musil:
Wüste und Oase, H.G. Wells: Der Vater Christine Albertas, einen Teil von
Descartes: Abhandlung über die Methode.
Gelernt: das Altertum (Ägypter, Babylonier, Inder, Phönizier, Israeliten,
Griechen, Perser usw.), die Geographie Arabiens, Hollands und des Mondes.
Gezeichnet: Hinter dem Schafstall und Hohenelber Kaserne. Im Kopf und auf
dem Papier habe ich mir einen Überblick über die Zoologie gemacht. Besuche
die Vorträge am Abend (über Rembrandt, Quacksalber usw.) Gehe nicht mehr zu
den Köchen.
September (1944):
Gelesen: Schweitzer: Aus meinem Leben und Werk, Binko imonovic: Die Familie
Vincic , De Vries: Rembrandt, Thomas Mann: Mano und der Zauberer, Dickens:
Weihnachtsgesänge, Dane: Der Ursprung und das Aussterben der Eingeborenen
in Australien und Ozeanien, Milli Dondolo: Der Engel hat gesprochen, Karl
May: Der Sohn des Bärenjägers, Oscar Wilde: De profundis und andere
Novellen.
Aus Petrs »Plänen«
September (offenbar 1944):
Linolschnitte machen, Zeichnungen, Stenographie, Englisch. Vedem betrachten,
sein Niveau, und sich eventuell mit etwas hervortun, aber wenn schon, dann
müßte es auch wirklich dafürstehen! (Sagen wir mit einem Linolschnitt ...)
(unbeendet)
Mej-Fa-Su
oder
Über die Gleichgültigkeit der Mandschurier
Durch die aufgeweichte, schlammige Mandschurei führt ein Feldweg. Tiefe
Furchen auf seiner Oberfläche bezeugen seine lange Benutzung. Unser Auto
bleibt mitunter stehen und dann müssen wir aussteigen und unsere Tatra aus
der Vertiefung herausstemmen. Wir schalten die Geschwindigkeit ein und
fahren im Schneckentempo weiter. Der Wagen stolpert über Höcker und Pfützen.
Schließlich taucht eine halb zerfallene Baracke auf und aus ihr tritt ein
Mandschurier hervor. Wir bleiben stehen und klettern aus dem Auto. Vor uns
ein mandschurisches Dorf. Nach einer Weile umringt uns die ganze Familie.
Wir frühstücken. Ich wende mich an einen jungen Mann: »Warum, um Himmels
willen, repariert ihr den Weg nicht? Man kann ja überhaupt nicht auf ihm
fahren?« - »Mej-Fa-Su!« antwortet der Mandschurier. »Da kann man nichts
machen!« Das ist die allgemeine Ansicht in Mandschurien. Obwohl der Weg
jeden Tag benützt wurde, fiel es niemandem auch nur ein, ihn auszubessern.
Er ist kaputt? Na dann ist er eben kaputt, Mej-Fa-Su, da kann man nichts
machen. Und damit ihr nicht glaubt, ich will mich mit mandschurischer
Philosophie befassen, so sage ich euch: Mandschurier gibt es nicht nur in
der Mandschurei. Auch hier gibt es von dieser Sorte mehr als genug. Wir sind
in Theresienstadt? Mej-Fa-Su. Wir schwitzen wie Schweine? Mej-Fa-Su.
Protektion auf Schritt und Tritt? Mej-Fa-Su. Alles wird als Faktum
akzeptiert, das zwar unangenehm, aber unabänderlich ist. Es gibt hier
Protektion? Was kann man machen? Protektion ist doch etwas so
unabänderliches, so selbstverständlich wie die Umdrehungen der Erde und die
Anziehungskraft. So war es früher, so wird es wieder sein. Mej-Fa-Su!
Laßt euch von Theresienstadt nicht abstumpfen! Schaut nicht wie Kälber
umher. Haut allem in die Fresse, was euch unrichtig erscheint. Tod den
Mandschuriern!

Manuskript des Romans Die Eroberer" von Petr Ginz mit
einer Zeichnung des Autors.
Aus dem Besitz seines Vaters Ota Ginz, Kiriat Jam, Israel. Jüdisches Museum
Prag
Der verrückte August
In der Luft war es feucht und kühl. Stahlgraue
Nebelstreifen hingen in ihr, die beinahe die Oberfläche der Wellen
berührten. Eine unangenehme Witterung. Die grüne Wellenmasse verlor sich in
einer Entfernung von etwa 100 Yard, verschmolz mit dem Nebel.
August saß in der Kajüte der Bonifacius. Man nannte ihn den verrückten
August, aber der Schiffsjunge Petr hatte Vertrauen zu ihm. »Er ist nicht
verrückt«, pflegte er zu sagen, »er ist anders, so ein bißchen sonderbar.
Wahrscheinlich kennt er irgendein großes Geheimnis, das ihr nicht versteht
und nicht einmal verstehen könnt.« »Du bist ja langsam auch schon so wie er,
wirst noch ganz verrückt, wenn du dauernd mit ihm redest«, sagten ihm die
übrigen Schiffsjungen. »Die wissen nichts«, meinte dann August immer, und
seine Augen schienen Petr in einem solchen Augenblick wie von einem hohen
Berg aus anzublicken, der von Wolken verhüllt ist. Nein, August war kein
Narr, keineswegs, verstand er doch so überzeugend zu sprechen. Und Petr
mochte ihn, diesen Narren mit den tiefen Augen, und er glaubte ihm. August
sprach wirklich eigenartig. »So spricht sonst niemand auf der Welt«, dachte
Petr, »niemals habe ich gehört, daß ein Kapitän, ein Steuermann, die
Schiffsjungen oder die Leute im Hafen so eigenartig sprechen würden.« Das
war nämlich seine ganze Welt.
Es war Nacht. Alles schlief, nur an Deck konnte man die Schritte der
Hundewache hören. Petr schlief ein. Seine Musken fühlten sich weich und
locker an, seine Muskeln, sein ganzer Körper kam ihm gelöst vor, und mit dem
gelösten Körper löste sich auch der Geist, und seine Sinne verloren sich im
blauen Nebel des Schlafs. Er verlor das Bewußtsein.
Auf einmal fühlte er eine leichte Berührung, wie einen elektrischen Funken.
Petr erhob sich mühsam von seinem Matrosenlager, sah sich um und erblickte
über sich die gläserne Figur des verrückten August. »Komm mit mir!« Petr
stand vom Lager auf und räkelte sich. »Komm schnell«, forderte ihn die
Stimme von August auf. Ohne Widerrede verließ Petr sein Lager, obwohl es
unter der Decke warm und draußen kalt war. Wortlos folgte er ihm. Sie
betraten das Unterdeck. August entzündete eine Kerze. Ihr schwaches Licht
erhellte kaum die Finsternis, die hinter jeder Erhöhung, in jeder Lücke
lauerte. Sie kamen zu einem kleinen Raum unter Deck. Der verrückte August
trat ein und Petr hinter ihm. Ein Schlüssel rumpelte im Schloß und
verschwand dann in der Tasche von August. Er stellte die
Kerze in die Mitte, setzte sich auf eine Kiste und vergrub seinen Kopf in
den Händen. Petr setzte sich in die Hocke, denn es war ihm kalt. August hob
den Kopf. Im Kerzenlicht erstrahlte sein ausdrucksvolles Gesicht, in dem wie
kleine Blitze seine Augen glänzten. Eine Weile verging. Um die Flamme
schwirrten kleine Fliegen. August ließ sich vernehmen. Seine Stimme erklang
störend in der toten Stille. »Leben? Was ist Leben? Wie dieses Kerzenlicht,
an dem sich die törichten Mücken ihre Flügel verbrennen!« Und abermals war
es still, nur ab und zu vom Knistern des Kerzendochts unterbrochen. »Die
armen Mücken.« - »Warum fliegen sie so um das Licht?« - Pause. Langsam
sprach er zu sich selbst, als er laut überlegte: »Gewohnheit - Bewegung zu
individueller Existenz und ... Unsicherheit...« Er verbarg von neuem den
Kopf in den Händen und stieß zwischen den Zähnen hervor: »Sie fliegen
fasziniert um die Flamme, bis sie verbrennen und vernichtet zu Boden fallen.
Dummköpfe!« - »Dummköpfe?« Die Gewohnheit und Unsicherheit sind zu stark,
sie können sie nicht überwinden. Insekten! ...« Beide saßen nun still. Petr
wunderte sich eigentlich, wieso er da war, anstatt friedlich in seiner Koje
zu schlafen. »Denk über das Leben nach, Junge«, sagte August, »schau, es ist
wie diese Flamme. Siehst du das, kannst du das verstehen? Aus Gewohnheit
fliegen wir um sie herum und müssen sterben. Wir wollen unser >Ich< sein und
für diesen Preis opfern wir alles!«
Er streckte die Hand aus und verlöschte die Kerze. Finsternis verbreitete
sich im Raum. Man hörte, wie die Mücken davonflogen, ohne die faszinierende
Flamme der Kerze. Eine Weile summten sie noch, dann war das Geräusch ihrer
Flügel nicht mehr zu hören. Sie waren wohl durch irgendeinen Spalt ins Freie
geflogen.
»Hast du gesehen, hast du gesehen«, ließ sich die Stimme von August
vernehmen, »hast du das gut wahrgenommen, Junge?« wiederholte er und schob
den Deckel der Kiste mit Pulver von sich.
»Noch einmal, Flamarion«, konnte man wie aus unendlicher Ferne die Stimme
des Kapitäns beim Kartenspiel hören.
»Erlösung ...«, flüsterte August, streckte die Hand aus und schleuderte die
leuchtende Flamme eines Streichholzes in die Pulverkiste.
Und der Raum erstrahlte in unendlicher Helle, und im Feuer der Explosion
erblickte Petr das Aufleuchten der Großen Verschmelzung.
Baustein 9
http://www.lpb.bwue.de/publikat/ghettos/ghettos.htm
Späte Ehrung:
Kinderzeichnungen im All
Der erste israelische Astronaut wird Kinderzeichnungen aus Theresienstadt im
Gepäck haben... |