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Nazis im Internet ???


 

 

"Deutschland ist längst eine mehrkulturelle 
Gesellschaft geworden, eine Gesellschaft also, 
in der Angehörige verschiedener Kulturen 
und Traditionen leben"

Wissensgesellschaft, 
Rechtsextremismus und 
Demokratiekompetenz

Wolfgang Thierses 
"Lübecker Appell" an die Lehrer

Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, beim 24. Gewerkschaftstag der GEW am 6. Mai 2001 in Lübeck 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, 

ich will mit einem kleinen Erlebnis beginnen: Vor ein paar Monaten war ich in einer ostthüringischen Stadt. Dort hatten mich Schüler eines Gymnasiums eingeladen, ich sollte ihnen gewissermaßen zu Hilfe kommen. Was war passiert? Sie erzählten mir in einem Gespräch, dass sie sich seit einigen Monaten nicht mehr auf den Marktplatz dieser Stadt trauen. Denn dort stünde immer ein Lieferwagen, und darin säßen ein paar Glatzköpfe mit Baseballschlägern. Wenn die jungen Leute, mit denen ich sprach - die nach meiner Wahrnehmung nichts Auffälliges an sich haben - sich dort auf den Marktplatz wagten, dann kamen diese heraus und haben sie vertrieben. 

Sie erzählten weiter: "Wir haben erst richtig begriffen, was mit uns passierte, als wir eines Tages in einer Gaststätte saßen. Da kamen ein paar Glatzköpfe rein, beschimpften uns. Es passierte uns nichts - der Wirt war ja da -, die Glatzköpfe gingen raus und warteten draußen." Die jungen Leute haben sich mehrere Stunden lang nicht getraut, die Gaststätte zu verlassen. Sie sagten: "Da haben wir begriffen, dass wir in unserer eigenen Heimatstadt Gefangene sind und dass wir uns irgendwie wehren müssen." Sie haben mit Lehrern an ihrer Schule gesprochen, haben sie zu Verbündeten gewonnen, haben zusammen eine Initiative gegründet, haben mit Kommunalpolitikern gesprochen, sind zu einer Versammlung des Kommunalparlaments, des städtischen Parlaments gegangen. 

Der Bürgermeister hat das abgewehrt, weil er - vertrauter Mechanismus - den Imageschaden für die eigene Stadt befürchtete. Die jungen Leute haben mich also eingeladen, und wir haben in der Turnhalle – das war der größte Saal der Stadt - eine Bürgerversammlung gemacht. Es waren mehrere hundert Leute da, was für eine kleine Stadt ja wirklich viel ist. Ich habe gesagt: "Seht doch, ihr seid die Mehrheit, ihr müsst es euch nur immer wieder wechselseitig zeigen, und die Erwachsenen dürfen die jungen Leute nicht alleine lassen."

Ich erzähle das, um eine Erfahrung zu übermitteln, die man nicht durch Lektüre von Zeitungsberichten oder Analysen oder Verfassungsschutzberichten gewinnen kann. Die Erfahrung, die ich vielfach gemacht habe und die mich bestürzt hat: wie viel Angst bereits wieder herrscht unter jungen Leuten vor Gewalt, vor rechten Schlägern. 

Gibt es ein Handeln 
nach all dem Gerede?

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Debatte um Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit, Gewalt ist in Deutschland in vollem Gange. Das ist gut so angesichts der dramatischen Zahl rechtsextremistischer Taten. Aber wer glaubt, inzwischen sei alles gesagt oder getan, der täuscht sich. Wenn ein Teilnehmer nach einem Kongress über Rechtsextremismus die Frage stellt: "Gibt es ein Handeln nach all dem Gerede?", dann stimmt das mehr als nachdenklich in vielerlei Hinsicht. Wird so viel geredet und so wenig gehandelt? Ist die Erwartungshaltung an Staat und Politik zu hoch? Fehlt es an wirklicher effektiver Zusammenarbeit derer, die sich wehren wollen? 

Nun wissen wir: Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit sind keine Probleme, die schnell gelöst werden können. Dazu sind ihre Ursachen viel zu komplex, ihre Wurzeln zu stark und in der Mitte der Gesellschaft angesiedelt. Vor drei Tagen, am Donnerstag, war ich in Vorpommern unterwegs in dieser Sache, und da haben mich Journalisten gefragt: "Herr Thierse, was meinen Sie denn? Vor knapp zwei Jahren haben Sie öffentlich die Debatte nicht losgebrochen, aber ihr doch noch einmal einen Schub gegeben, mit energischen Bemerkungen. Hat sich irgendetwas geändert?" Und da war meine Antwort und ist meine Antwort: "Es ist widersprüchlich. Das Problem selbst ist nicht besser geworden. Das Problembewusstsein – immerhin, das ist ein Fortschritt – das Problembewusstsein in der Öffentlichkeit ist ein anderes geworden." 

Im Verfassungsschutzbericht 2000 sind rund 1000 Gewalttaten mit einem erwiesenen oder zu vermutenden rechtsextremistischen Hintergrund erfasst. Das ist gegenüber dem Jahr 1999 ein Anstieg um ein Drittel, um 33 Prozent. Insgesamt ist die Zahl der rechtsextremistischen Straftaten um fast 60 Prozent auf knapp 16.000 gestiegen. Die Täter sind sehr häufig Schüler, Azubis, junge Arbeitslose. Und wir, die Gesellschaft, wir sind jedes Mal schockiert, wenn eine solche Tat passiert. Aber es ist schon etwas erreicht, wenn die Medien dem Problem nun größere Aufmerksamkeit schenken und es ausführlich beleuchten, ohne die nächste Gewalttat abzuwarten. Denn das hat mich immer geärgert: der konjunkturelle Umgang der Medien mit dem Thema. Es passiert etwas, zwei Tage Aufregung, dann wieder Ruhe. Das ist anders geworden. Das Problembewusstsein ist geschärft. Damit tragen auch die Medien der Erkenntnis Rechnung, dass rechtsextreme, ausländerfeindliche, antisemitische Gewalttaten nur die Spitze des Eisbergs sind. 

Rechtsextreme, ausländerfeindliche, 
antisemitische Gewalttaten sind dramatische 
Warnzeichen für die Ausbreitung von 
Vorurteilen und Hass gegen alles, was fremd ist 
und gegen jeden, der fremd erscheint

Sie sind dramatische Warnzeichen für die Ausbreitung und Wirksamkeit rechtsextremer Einstellungen von Vorurteilen und Hass gegen alles, was fremd ist und gegen jeden, der fremd erscheint. Etwas, was sich unterschwelliger ausbreitet. Aber wer dem latenten Extremismus der Rechten nicht widerspricht, wird den manifesten und gewalttätigen Extremismus nicht in die Schranken weisen können. Was genau geht in den Köpfen von jungen Menschen vor, die Ausländer, Obdachlose, Behinderte beleidigen, anpöbeln, verfolgen und zu Tode prügeln? Ein immer wieder quälender Gedanke, eine quälende Frage.

Zahlreiche Untersuchungen haben viele Ursachen zu Tage gebracht. Ich will sie hier nicht ausführlich referieren. Ich nehme an, Sie kennen die einschlägigen Untersuchungen. Aber ein paar Stichworte: Die Globalisierung, die dramatischen Veränderungen, die damit verbunden sind und die das erzeugen, was ich Überforderungsängste und Vereinfachungsbedürfnisse nenne. Die Sorge um die materielle Sicherheit, die Erfahrung von Arbeitslosigkeit oder die Angst vor Arbeitslosigkeit. Die Konkurrenz um Arbeitsplätze, die Radikalität und der Umwälzung in Ostdeutschland mit den Folgen von Unsicherheit und Desorientierung. Und als letztes Stichwort: der Tabubruch, der den wohl letzten großen gesellschaftlichen Konsens aufkündigt und der die eindeutige Absage an die menschenverachtende nationalsozialistische Ideologie enttabuisiert, um zu provozieren. 

Ich weiß: Nur zu analysieren reicht nicht, ebenso wenig wie regelmäßig Zivilcourage und Gegenwehr einzufordern, ohne zu sagen, wie sie denn entstehen. Zivilcourage, wir wissen das, hat man nicht einfach von Geburt an. Sie entsteht durch Bildung, durch Erziehung im Elternhaus, in der Schule, in der Ausbildung, in der engeren und weiteren sozialen Umgebung - durch die Erfahrung übrigens auch, dass man nicht alleine ist. Heldenmut ist nicht das, was man aus dem Western kennt, sondern ist immer die Erfahrung, dass man mit anderen zusammen etwas ausrichten kann. 

Völlig verquere Ideologien fallen immer dann auf fruchtbaren Boden, wenn Lebenssinn, wenn Orientierung, wenn demokratische Werte nicht überzeugend vermittelt worden sind. Wenn die Anerkennung der eigenen Persönlichkeit und der anderen nicht oder nur vermindert vorhanden ist. Eine weitere Bemerkung: Junge Menschen, die nur auf das Berufsleben vorbereitet werden, sind nicht unbedingt in der Lage, den Herausforderungen der demokratischen Gesellschaft zu entsprechen. Ich komme noch einmal darauf zurück. Ich will jetzt nur sagen: Die meisten jungen Menschen wissen zwar, dass sie in einer Demokratie leben, aber viele wissen nicht, wie sie funktioniert.

Demokratische Politik ist ein komplizierter, langwieriger und oft auch mühsamer Prozess des Aushandelns von Konsensen oder Kompromissen, von unterschiedlichen Meinungen und Interessen, Ideen, Vorschlägen, Forderungen. Demokratie lebt von unterschiedlichen Auffassungen und zehrt von der Auseinandersetzung, der Beteiligung, von Zuhören und Mitwirken. Kritische Informiertheit, Teilnahmebereitschaft, Gemeinsinn und Toleranz sind unverzichtbare Kompetenzen für das Funktionieren einer Demokratie. Und sie werden immer wichtiger, gerade in Zeiten beschleunigten Wandels. 

An dieser Stelle erlaube ich mir die Nebenbemerkung: Gerade das ist im Osten Deutschlands noch einmal ein besonderes Problem. Nicht, weil wir da dümmer wären, sondern weil wir - 10 Jahre sind keine lange Zeit - weniger Erfahrungen mit Demokratie gemacht haben, weil die Ostdeutschen die Aneignung der Demokratie leisten mussten in Zeiten eines dramatischen Umbruchs, der so viele verunsichert hat und eine beträchtliche Menge von Opfern gefordert hat. Deshalb ist demokratische Bildung in Ostdeutschland von besonderem Gewicht. Nun ist es richtig: Staat und Politik sind zuallererst gefordert, den Sinn und Wert demokratischer Prinzipien zu erklären, zu begründen, zu vermitteln und dafür immer neu zu werben. Wenn ich das sage, meine ich nicht an erster Stelle, dass Politiker in besonderer Weise vorbildhafte Menschen sein müssen. Heiligkeit von ihnen zu verlangen, ist eine Illusion. Sie sollen nicht mehr und nicht weniger tun als erkennbar für das Gemeinwohl zu arbeiten. Das ist der Maßstab, an dem ich Politiker gerne gemessen sähe. 

Bezogen auf das Thema, das uns bewegt, will ich aber eine ausdrückliche Aufforderung an meine Berufskollegen richten: Es gibt ja, wie wir sehen, kaum ein Thema, das so emotions-, angst-, vorurteilsbesetzt ist wie das ganze Thema Zuwanderung, Umgang mit Ausländern, Asyl, Integration - welchen Namen wir ihm immer geben. Weil das so ist, haben Politiker die besondere Verantwortung, so sachlich, so differenziert wie irgend möglich mit diesem Thema umzugehen und nicht ihrerseits Ängste, Vorurteile und Emotionen zu schüren, möglicherweise um eines billigen parteitaktischen Vorteils willen. 

Staat und Politik, Justiz und Polizei 
haben ihre Pflicht zu tun, den Rechtsstaat zu 
verteidigen, die Schwachen zu schützen

Noch etwas will ich ausdrücklich sagen: Staat und Politik, Justiz und Polizei haben ihre Pflicht zu tun, den Rechtsstaat zu verteidigen, die Schwachen zu schützen. Dazu gehört auch der Antrag auf das Verbot der NPD. Keiner sagt, dass das die Lösung des Problems wäre. Wir wissen, Gesinnungen kann man nicht durch ein Verbot beseitigen. Aber dieses Verbot richtet sich dagegen, dass die organisatorische Basis der Verbreitung von rechtsextremistischer Ideologie weiter besteht. Wenn ich eine persönliche Bemerkung hinzufügen darf: Sie können sich vorstellen, wie sehr es mich ärgert, dass ich als Bundestagspräsident nach dem geltenden Recht dazu verpflichtet bin, auch der NPD staatliche Finanzmittel zuzuweisen. Denn so lange eine Partei legal ist, an Wahlen teilnimmt, Wählerstimmen bekommt, Parteimitgliedsbeiträge einzieht und Spenden bekommt, bin ich verpflichtet, einen entsprechenden Anteil an staatlichen Finanzmitteln zuzuweisen. Diesen unerträglichen Zustand, dass der demokratische Staat gewissermaßen seine Gegner mitfinanziert, den können wir erst beenden durch ein Verbot dieser Partei. Auch deshalb ist dieser Verbotsantrag sinnvoll. Aber es ist klar: Das ist nicht die Lösung des Problems, sondern nur die Wiedererrichtung eines politisch-moralischen Tabus, das ein Verbot ja ist. 

Es geht langfristig vor allem um Bildungsarbeit. Das ist der eigentliche Punkt, um den es uns gehen muss. Sie ist aber nur im Verbund von Staat, Elternhaus, Jugendarbeit und Schule zu leisten. Das ist zwar eine Trivialität, aber trotzdem versucht immer wieder der eine, die Verantwortung auf den anderen zu schieben. Ich las neulich wieder einmal in einem Artikel, dass Lehrer die Unterstützung des Elternhauses bei ihrem Bildungsauftrag vermissen. Ich lese oft, dass die Schulen als "Leerstellen" tituliert werden, wenn es um politische Bildungsarbeit geht, und die Institutionen der Jugendarbeit klagen über fehlende finanzielle Mittel. Das ist der Alltagszustand, ein Zustand wechselseitiger Vorwürfe. Doch wie so oft liegt darin ein beträchtliches Maß an Wahrheit. In vielen Städten und Gemeinden wird Jugendarbeit schlicht vernachlässigt, weil zu wenig Geld zur Verfügung steht. 

Wer jetzt bei der Jugendarbeit spart, 
muss in ein paar Jahren erheblich mehr zuzahlen

Ich sage es auch hier, was ich bei allen meinen Reisen und Gesprächen mit Kommunalpolitikern sage: Wer jetzt bei der Jugendarbeit spart, muss in ein paar Jahren erheblich mehr zuzahlen. In Ostdeutschland fehlen zudem häufig die Strukturen für eine umfassende und kreative Jugendhilfearbeit. Aber außer zu wenig Jugendarbeit kann man auch - wenn ich das etwas polemisch zugespitzt sagen darf - die falsche machen. So hat das westdeutsche Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit, entwickelt in friedlicheren Zeiten unter ganz anderen Voraussetzungen, in Ostdeutschland eher problematische Wirkung. Ich kenne selber viele Beispiele, wo - vielleicht mit Ungeschick und ungenügend - versucht worden ist, mit diesem Konzept zu arbeiten und das Ergebnis war, dass die Rechtsextremen den Jugendclub in Besitz genommen haben. Ich will ausdrücklich sagen: Das muss nicht am Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit liegen, aber möglicherweise an der allzu umstandslosen Übertragung auf ganz andere, schlimmere Verhältnisse, und darüber muss man diskutieren. Vielerorts wird ja in Kauf genommen, dass die Rechtsextremisten den Jugendclub in Besitz genommen haben, weil man sich vor dem Ruf fürchtet, eine rechtsextreme Szene in der eigenen Gemeinde oder Stadt zu haben. Schließlich verschwindet sie ja so von den Straßen und Plätzen in die Jugendeinrichtung, wird unsichtbar.

Statt also offensiv diesen Tendenzen entgegen zu treten, wird das Thema tot geschwiegen. Ein weiterer Punkt, an dem es besonders delikat ist, pointiert zu reden: Ich will hier nicht verallgemeinern, aber so wie ich es sehe, meinen allzu viele Eltern irrtümlich, dass bei Eintritt ihrer Kinder in die Schule das Notwendigste im Elternhaus geleistet worden sei und nun die Schule am Zuge sei. Polemisch überspitzt kann man – bezogen auf das Thema, das uns hier beschäftigt – von einem Versagen eines großen oder beträchtlichen Teils der Eltern sprechen. Denn es ist doch so, dass die Eltern die ersten Ansprechpartner, das Gegenüber sind, dass in der Familie gewissermaßen geborgen durch die Liebe der Familienmitglieder Auseinandersetzung und Solidarität gelernt wird. Nirgendwo sonst als in der Familie, als in der Auseinandersetzung und im Zusammenhalt zwischen Eltern und Kindern kann man lernen, was gewaltfreie Auseinandersetzung ist. Aber offensichtlich ist einem Teil der Eltern die Kraft, die Fähigkeit verloren gegangen – aus Gründen, die auch mit.6 ökonomischen oder sozialen Verhältnissen zu tun haben. Man muss dies aussprechen: Offensichtlich gibt es hier ein dramatisches Manko in unserer Gesellschaft. 

Erst dann, erst jetzt komme ich zur Schule, die natürlich in einer besonderen Verantwortung steht. Mit einer beinahe rituellen Regelmäßigkeit wird die Schule kritisiert, weil sie nicht ausreichend Wissen und Werte vermittelt habe, um die jungen Menschen resistent für die Politik- und Ideologieangebote des Rechtsextremismus zu machen. Als ich am Donnerstag in diesem Gymnasium in Vorpommern war, da haben mir die Schüler gesagt: "Wir wünschen uns besser ausgebildete Lehrer, die uns mehr sagen über Geschichte, Nationalsozialismus, über Vorurteile, über Ursachen von Rechtsextremismus und was man dagegen tun kann." Diese Art von Kritik erzeugt immer dieselbe Reaktion. Die Forderung nach mehr und qualifizierter politischer Bildung wird als eine Zumutung zurückgewiesen, weil Lehrer und Lehrerinnen sich als Feuerwehr für gesellschaftliche Missstände missbraucht sehen. Eine verständliche Reaktion, denn in der Tat kann Schule nicht kurzfristig reparieren, was sich in der Gesellschaft langfristig entwickelt hat und was über Jahre hinweg auch falsch gewichtet worden ist. Aber Schule kann doch langfristig präventiv, nachhaltig wirksam die Grundwerte zivilen Zusammenlebens vermitteln. 

Schule sollte ein wichtiger Lernort fürs Leben sein. Hier können Kenntnisse vermittelt, Erfahrungen ermöglicht und Verantwortlichkeiten entwickelt werden. Ob Klassenverband, Teamarbeit oder Schülerpolitik – intensiver als hier ist nicht zu erfahren, was es heißt, sich argumentativ durchzusetzen, sich zurückzunehmen, eigene Stärken und Schwächen im Vergleich zu anderen wahrzunehmen und anerkannt zu werden. Die Schule muss ein Ort für solche Erfahrungen sein. Gerade dann, wenn wir – und darin sind wir uns doch jetzt wirklich einig – an dem eigentlichen Erziehungsziel festhalten und darauf hinarbeiten wollen: Wir brauchen Erziehung zu verantworteter Freiheit. Das bedeutet zugleich Befähigung zum Urteil und zur Verantwortung. In den Köpfen muss mehr sein als die Fähigkeit, sich im Konkurrenzkampf durchzusetzen. Dafür arbeiten wir doch, dafür arbeiten Sie doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass der Mensch nicht alleine ein Homo oeconomicus ist. 

Wir sind uns hoffentlich einig, dass der Mensch nicht reduziert werden darf auf seine beiden marktgemäßen Rollen, nämlich Arbeitskraft und Konsument zu sein. Er hat auch noch andere Dimensionen seines Menschseins, die zu erproben, die zu erfahren, die zu leben sind – trotz der Zwänge, denen wir als Wirtschaftswesen unterworfen sind. Die Reduktion auf die beiden marktgemäßen Rollen ist unmenschlich, weil sie die Würde des Menschen antastet. Der Mensch muss auch im Scheitern seine Würde bewahren – im eigenen ebenso wie im Umgang mit dem Scheitern des Nächsten. Er muss wissen, wie man mit eigenen Defiziten und mit.7 Niederlagen umgeht. Es ist Zeit, dass man die aktuellen Debatten um die Wissensgesellschaft mit der Debatte um den Rechtsextremismus verknüpft. So wichtig es wird – das ist unbestreitbar – mit dem Internet umzugehen und komplizierte Wirtschaftsstrukturen zu durchschauen, so wichtig ist es auch zu wissen, welche Rechte und Pflichten man in der Demokratie hat, was Toleranz wirklich bedeutet. Wem das nicht klar ist, der sollte sich überlegen, wohin Medien- und Wirtschaftskompetenz ohne Demokratiekompetenz führt. 

Deutschland ist längst eine mehrkulturelle 
Gesellschaft geworden, eine Gesellschaft also, 
in der Angehörige verschiedener Kulturen 
und Traditionen leben

Wenn das ökonomische Lernen nicht durch soziales, politisches und ethisches Lernen begleitet wird, dann fördert die Schule doch genau jenes übersteigerte Wohlstands- und Konkurrenzdenken, auf das wir für eine tolerante und solidarische Gesellschaft nicht aufbauen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist nicht möglich, auf ethnisch eindimensionalen Inseln zu leben. Deutschland ist längst eine mehrkulturelle Gesellschaft geworden, eine Gesellschaft also, in der Angehörige verschiedener Kulturen und Traditionen leben. Deshalb brauchen wir interkulturelle Bildung, und deshalb möchte ich im Folgenden etwas ausführlicher eingehen auf den Zusammenhang zwischen Migration und interkultureller Bildung.

Ich beginne mit einem Zitat aus einem Kinderaufsatz: "Als ich in die Moschee reinging, dachte ich, ich wäre in einem Palast. Ich fühlte mich reich, ich fühlte mich wie der König von Deutschland. Ich war von dem Teppich richtig verzaubert." Dieser orientalische Zauber, den deutsche Kinder während eines Schulausflugs in eine Moschee erlebten, hat nicht nur ihre Phantasie beflügelt. Er hat auch ihre Neugier geweckt auf die Religion und Kultur der moslemischen Mitschülerinnen und Mitschüler. Ich zitiere weiter: "Wir durften Fragen stellen. Die Antworten waren sehr interessant und wir durften auch mit denen beten. Das war sehr schön!" Wenn man solche Sätze liest, glaubt man kaum, dass diese Kinder aus einer so genannten Problemklasse kommen. Es ist die sechste Klasse eines nordrhein-westfälischen Gymnasiums, in dem rund die Hälfte der Kinder muslimischen Glaubens sind. "Kloppen", wie sich die Schüler ausdrücken, gehört dort zum Alltag. Wegen der zahlreichen Konflikte und Aggressionen zwischen den türkischen und den deutschen Schülern hatte sich die Lehrerin zum Moscheebesuch entschlossen, mit nachhaltigem Erfolg. Den deutschen Kindern hat dieser Besuch eine neue, respektvollere Sicht auf die Lebenswelt ihrer türkischen Mitschüler eröffnet, und die türkischen Schüler waren stolz und erleichtert, dass den deutschen der Besuch so gut gefallen hat. Dieser gemeinsame Moscheebesuch ist ein ganz kleines, aber doch gelungenes Beispiel dafür, wie sich deutsche Kinder und Migrantenkinder im gegenseitigen Respekt näher kommen können. Doch längst nicht immer haben solche kleinen Schritte so große Wirkung. Wir wissen, dass das gemeinsame Leben und Lernen von Kindern deutscher und ausländischer Muttersprache alles andere ist als eine Idylle. Das wissen Sie aus dem Schulalltag viel besser als ich. 

Zu vieles irritiert, provoziert im täglichen Miteinander: unterschiedliche Lebensgewohnheiten, Sitten, Gebräuche, fehlende Sprachkenntnisse, eine andere Einstellung zu Glaube und Religion vor allem bei den Muslimen. Die aktuellen politischen Diskussionen sind denn auch, wenn ich es recht sehe, vielfach von Abwehr geprägt. Ob es um die doppelte Staatsbürgerschaft ging oder um die Greencard, den islamischen Religionsunterricht oder das Tragen von Kopftüchern. Das Ringen um die Frage, wie wir mit kultureller Vielfalt umgehen, gipfelte - obwohl das Wort "gipfelte" hier eigentlich falsch ist – in der inzwischen so genannten Patriotismusdebatte. Der Sache förderlich war daran zumindest eins: Endlich besteht erklärtermaßen Konsens darin, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und dass wir daraus Konsequenzen ziehen müssen. Gelegentlich muss man daran erinnern, dass das 20 Jahre lang tabuisiert war: Deutschland war kein Einwanderungsland, obwohl die Zahl der Bürger ausländischer Herkunft ständig zunahm. Auch das ist im Rückblick ein politisches Lehrstück. In Deutschland leben - Sie kennen die Zahl - 7,4 Millionen Ausländer oder Bürger ausländischer Herkunft, viele davon bereits in zweiter oder dritter Generation. Sie als Ausländer zu bezeichnen, ist im Grunde höchst problematisch. Viele sind in Deutschland geboren. Sie sind in Berlin, Köln oder München aufgewachsen und zur Schule gegangen und damit zweifellos Teil unserer Gesellschaft.

Die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts war ein überfälliger Schritt zur Anerkennung dieser schlichten Tatsache. Allein zwischen 1990 und 1999 wurden 950.000 Kinder ausländischer Herkunft in Deutschland geboren, rund die Hälfte von ihnen hat Anspruch auf Einbürgerung. Bleiben werden wohl die meisten. Sie werden hier in die Schule gehen, eine Ausbildung absolvieren, hier leben und arbeiten. Kulturelle Vielfalt ist also kein Übergangszustand, sondern der Normalfall geworden. Lange Zeit konnten wir es uns leisten, die zahlreichen Probleme, die damit verbunden waren, zu verdrängen oder als Randphänomene abzutun. Die erschreckende Zunahme von Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus hat uns vor Augen geführt, wie drängend die Aufgabe ist, das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen auf Dauer zu regeln und zu gestalten. Wie viel Gemeinsamkeit und welche Grundübereinstimmung braucht unsere Gesellschaft, damit sie möglichst viel Verschiedenes, möglichst viel Verschiedenheit leben und aushalten kann? Das ist die Grundfrage. Was sind die Bindekräfte einer Gesellschaft, die schon um der eigenen ökonomisch-sozialen Vitalität willen der Zuwanderung bedarf, die also mit mehr ethnischen, religiösen, kulturellen Differenzen wird rechnen und leben müssen? Wie kann Integration gelingen, wie weit kann und soll Integration gehen? 

Bei der Beantwortung dieser Fragen sind wir uns über einige wesentliche Punkte einig geworden: Wer bei uns leben will, braucht seine kulturelle Herkunft nicht zu verleugnen, er muss aber die Grundwerte unserer Verfassung und unsere demokratischen Spielregeln akzeptieren. Das ist zwischen den demokratischen Parteien unstrittig – ganz gleich, ob man das Verfassungspatriotismus oder normativen Konsens nennt. Übrigens, die meisten Muslime, die hier leben, wissen den Schutz unserer Verfassung, die Offenheit dieser Gesellschaft durchaus zu schätzen, und sie wissen, dass beides eng miteinander zusammen hängt. Wir können nur dann eine offene Gesellschaft bleiben, wenn sich keine Inseln bilden, die außerhalb unseres gesellschaftlichen Grundkonsenses liegen. Und solche Inseln sind Rechtsextremismus und sind auch Bürger ausländischer Herkunft, die sich nicht wirklich auf diese Gesellschaft einlassen. Damit bin ich beim nächsten Punkt: Wer zu uns kommt, der sollte bereit sein, die deutsche Sprache zu erlernen. Auch darüber besteht Konsens. Ohne gemeinsame Sprache kann Integration nicht gelingen. Es gibt Menschen aus anderen Ländern, die seit Jahrzehnten hier leben und unsere Sprache noch immer kaum oder gar nicht beherrschen. Nach einer Studie des Essener Zentrums für Türkeistudien hat sogar mehr als die Hälfte der türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürger Probleme, Deutsch zu verstehen. Da geht es nicht nur um eine unziemliche Forderung der Mehrheitsgesellschaft an die Minderheit, sondern auch um die Chancen dieser Minderheit. 

Vor ein paar Monaten waren Türkinnen aus Kreuzberg bei mir im Büro, die an einem Deutschunterricht an der Volkshochschule teilnehmen. Ich fragte sie, seit wann sie in Deutschland sind: teilweise seit 20, 30 Jahren. Dass sie nicht Deutsch können, hat dazu geführt, dass sie ausgeschlossen sind vom sozialen, kulturellen Leben, abhängig von ihrem Mann, eingesperrt in die Familie. Barbara John, die Berliner Ausländerbeauftragte, hat das Problem jüngst in erfrischender Deutlichkeit ausgesprochen und damit der Diskussion um Sprachkurse Auftrieb gegeben. Ob am Ende eine Verpflichtung auf Sprachkurse steht oder bessere Anreize: Ich jedenfalls halte es für notwendig, dass wir das Angebot an Sprachkursen und vor allen Dingen auch ihre Akzeptanz vergrößern. Wie sollen Zuwanderer in unserem Land heimisch werden, wenn sie nicht einmal seine Sprache verstehen? Und vor allem: Wie soll die schulische und berufliche Integration ihrer Kinder gelingen, wenn sie vom Elternhaus dabei nicht unterstützt werden, nicht unterstützt werden können? Kinder zu fördern und fordern gehört in erster Linie zum Erziehungsauftrag der Eltern. 

Sicher, Pauschalisierungen sind hier wie an den meisten anderen Stellen fehl am Platz. Viele Migrantenkinder der zweiten oder dritten Generation sprechen Deutsch wie ihre Muttersprache, leben wie deutsche Kinder und fühlen sich heimisch. Aber es gibt ebenso viele, die mit zwei Kulturen aufwachsen und sich in keiner von beiden wirklich zu Hause fühlen. Welche Folgen das hat, lässt sich an den Statistiken über den Schulerfolg, über den Ausbildungsstand und über die Chancen von Migrantenkindern auf dem Arbeitsmarkt ablesen. Obwohl der Bildungs- und Ausbildungsstand von Migrantenkindern in den letzten Jahren leicht gestiegen ist, liegt er immer noch weit unter dem deutscher Kinder. Migrantenkinder sind immer noch an den Haupt- und Sonderschulen deutlich überrepräsentiert, an den Realschulen und Gymnasien aber unterrepräsentiert. Jedes fünfte von ihnen verlässt die Hauptschule ohne Abschluss. Nicht einmal jedes Dritte schafft die Mittlere Reife, nur jedes Elfte schafft die Hochschulreife. Und vor allem: Etwa vierzig Prozent der türkischen Jugendlichen bleiben ohne Berufsausbildung. Die Arbeitslosenquote ist entsprechend hoch. Ohne Schulabschluss, ohne Berufsausbildung, ohne Arbeitsplatz haben diese Jugendlichen kaum eine Chance auf gesellschaftliche Integration. Die sozialen Probleme, die damit einhergehen – verstärkte Rückzugstendenzen auf der einen und Ausgrenzungsmechanismen auf der anderen Seite – sind sichtbar. Die schlechten schulischen Leistungen haben viele Ursachen, aber Sprachprobleme sind immer noch die wichtigste.

Migrantenkinder fühlen sich häufig wie Analphabeten in zwei Sprachen. Sie beherrschen oft weder ihre Muttersprache noch das Deutsche. Die "Bildungskatastrophe der Migrantenkinder", so war in der "taz" zu lesen, ist aber bisher kaum ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. Sie ist eine Hypothek der vergangenen Jahrzehnte, in denen man in Deutschland zunächst davon ausging, dass die meisten ausländischen Familien bald in ihre Heimat zurückkehren würden. Aber auch noch heute gelten Migrantenkinder als Problemkinder. Sie sind einem enormen Anpassungsdruck ausgesetzt, während deutsche Eltern in Klassen mit hohen Ausländeranteilen um das Niveau der Schulbildung fürchten und ihre Kinder lieber in andere Schulen schicken. Sie kennen das. Heute gibt es viele Klassen, in denen der Anteil der Migrantenkinder 40 % und mehr beträgt. Sprachschwierigkeiten, schulische Misserfolge, schlechte Berufsausbildung, Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt verstärken ihre sozialen Probleme und nähren damit wiederum die landläufigen Vorurteile gegen Ausländer, ein teuflischer Kreislauf. Bei der Integration von Kindern und Jugendlichen ausländischer Herkunft spielen Schulen und die Bildungsinstitutionen eine zentrale Rolle. Wer das sagt, setzt sich, zumal bei der GEW, leicht dem Vorwurf aus, er wolle den Schulen wieder einmal die Verantwortung für einen besonderen, besonders schwierigen gesellschaftlichen Missstand aufbürden. Nun will ich es ausdrücklich wiederholen: Ich bin weit davon entfernt, den Schulen eine Rolle als Reparaturwerkstatt der Gesellschaft aufbürden zu wollen. Doch wo sonst soll diese Gesellschaft sich dem Problem widmen? Bei aller Kritik an den Schulen: Wir haben keine andere große Institution, jedenfalls keine so gut funktionierende. Die Schule ist nun mal nicht nur für die Bürger – wie soll ich das nennen – "einheimischer" Herkunft, sondern auch ausländischer Herkunft die zentrale Sozialisationsinstanz. Und das ist auch gut so. Wir wollen das doch nicht aufgeben. 

Der Abgeordnete Cem Özdemir hat jüngst eine "Bildungsoffensive" für Migrantenkinder gefordert und hat dabei eine ganz gute Erfahrung herangezogen: Unsere Gesellschaft müsse heute für Migrantenkinder tun, was sie in den 60er und 70er Jahren für die Arbeiterkinder getan habe: ihnen den Weg zu höherer Bildung ebnen. Pädagogen und Bildungspolitiker beschäftigen sich schon seit Jahren mit der Frage, wie Migrantenkinder in der Schule optimal gefördert werden können. So unterschiedlich die Konzepte im Einzelnen sind, der Weg zur schulischen und beruflichen Integration von Migrantenkindern führt über eine möglichst frühzeitige und kontinuierliche sprachliche Förderung. An erster Stelle steht der Deutschunterricht, aber auch die Entwicklung der Muttersprache gehört an einigen Schulen, z.B. in Nordrhein-Westfalen, zum integrativen Lernkonzept. Pierre Bourdieu hat den Begriff des "kulturellen Kapitals" geprägt. Die natürliche Mehrsprachigkeit, die mit den Migrantenkindern in unsere Schulen kommt, ist, denke ich, ein solches enormes kulturelles Kapital, das wir annehmen, schätzen und nutzen sollten. Nicht zuletzt mit Blick auf eine zusammen wachsende Welt, in der die Kenntnis fremder Sprachen und Kultur immer wichtiger wird. Könnten wir – das ist mein Appell – die Migrantenkinder, mit denen wir so viele praktische Probleme haben, als ein solches großes kulturelles Kapital akzeptieren und aneignen? Die Kultusministerkonferenz hat bereits 1996 die interkulturelle Erziehung als Schlüsselqualifikation bezeichnet. Im Schulunterricht wie auch in der Lehrerausbildung an den Hochschulen müsse interkulturelle Erziehung als Querschnittsaufgabe begriffen werden. In der Tat: Wo kulturelle Vielfalt zum gesellschaftlichen Normalzustand geworden ist, ist auch und gerade Schule gefordert, den Umgang mit kulturellen Differenzen einzuüben. 

Allenthalben ist zu hören, der Abschied von einer monokulturell ausgerichteten Pädagogik sei überfällig. Doch - und jetzt verstecke ich mich hinter einer Institution - das Zentrum für Türkeistudien in Essen hat nüchtern bilanziert, der Versuch zur interkulturellen Erziehung erschöpfe sich bisher häufig in Folkloreeinlagen im Sport- oder Musikunterricht und in südländischen Spezialitätenständen auf Schulfesten. Ich hoffe, das ist eine Verzerrung. Doch trotz einer Fülle an pädagogischen Konzeptionen, Entwürfen und Projekten ist bisher offenbar noch nicht recht klar geworden, wie interkulturelle Erziehung in der schulischen Praxis umgesetzt werden kann. Interkulturelles Lernen – so hat es Lale Akgün vom Landeszentrum für Zuwanderung in Solingen ausgedrückt – ist weder ein Förderunterricht zur Kompensation der Defizite von Migrantenkindern noch ein Antidiskriminierungstraining für einheimische Kinder, sondern ein Bildungskonzept, das alle Kinder, Lehrer und Eltern einbezieht und das die ganze Qualität der Schule verändern soll. Das freilich setzt voraus, dass Lehrerinnen und Lehrer nicht nur ihr Fachwissen, sondern auch ihre pädagogischen Qualifikationen für das interkulturelle Lernen einsetzen und schulen. Bisher öffnet der Schulunterricht vermutlich zu selten den Blick über den Tellerrand der europäischen Kultur. Verständigung und Austausch über kulturelle Grenzen hinweg setzt aber die Bereitschaft zum Perspektivwechsel voraus. Ich meine, dass mehr Beschäftigung mit der Geschichte anderer Kontinente, mit ihrer Kultur, ihren religiösen Traditionen in die Lehrpläne gehört. 

Wie sollen deutsche Kinder Offenheit und Verständnis für ihre ausländischen Mitschülerinnen und Mitschüler entwickeln, wenn sie nichts oder kaum etwas über deren Kultur erfahren? Hier kann Schule in ihrer ureigenen Funktion als Vermittlerin von Wissen vieles zur interkulturellen Bildung junger Menschen beitragen. Um ein harmloses Beispiel zu verwenden: Kinder die wissen, warum türkische Frauen Kopftücher tragen, mögen das trotzdem komisch finden. Aber sie werden sich vielleicht nicht mehr gedankenlos darüber lustig machen. Ignoranz heißt "Nichtwissen", und aus Ignoranz entstehen schnell Ablehnung, Abwehr und Ausgrenzung, im schlimmsten Fall sogar Aggression und Gewalt. Nun gibt es für zunehmende Gewaltbereitschaft und für zunehmenden Rassismus keine monokausale Erklärung. Man muss über verschiedene Ursachen reden. Ich glaube, die dramatischste Ursache sind (ich habe es vorhin schon genannt) Überforderungsängste und Vereinfachungsbedürfnisse von Menschen. Gerade in Zeiten der Umwälzung, der Beschleunigung, der Entgrenzung bedürfen junge Menschen aber der Selbstvergewisserung und des Rückhalts. Bleiben sie aus, sind junge Menschen leichter verführbar für Gruppen und Beheimatungsangebote der einfachen Art, wie sie die rechtsextremen Ideologen bieten. 

Abgrenzung, Abwehr, Aggression, wie wir sie zur Zeit immer häufiger auch in ihren schlimmsten Auswüchsen erleben, sind nicht zuletzt eine Reaktion auf fehlende Selbstsicherheit. Kinder wachsen heute in einem Nebeneinander von verschiedenen, teilweise kontroversen Überzeugungen, Weltanschauungen, Religionen und politischen Positionen auf. Die Spannbreite der Pluralität ist heute so groß, dass Orientierung zu einer Hauptaufgabe von Bildung wird. Sicher, die Gesellschaft kann nicht ihre Orientierungsprobleme einfach in der Schule abladen. Schule wäre überfordert, sollte sie allein das Defizit an Sinn, an Orientierung, an demokratischen Tugenden ausgleichen. Aber Schule darf sich auch nicht darauf zurückziehen, nur Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln. Sie hat auch die Verantwortung, Wertvorstellungen, Weltbilder und soziale Kompetenzen weiterzugeben. Wenn wir schon Bildung als die soziale Frage des 21. Jahrhunderts bezeichnen, dann sollten wir nicht den Fehler machen, die Debatte auf die Inhalte von Ausbildung zu reduzieren. 

Beruflich verwertbare Fertigkeiten sind wichtig, das ist unbestreitbar. Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit sind wichtige Ursachen für Rechtsextremismus, und gegen beides schützen gute Ausbildung, berufliche Perspektiven und verlässliche Aussicht auf Arbeit noch am besten. Doch mir graust es immer wieder vor dem Ausdruck - Sprache ist ja verräterisch - wir müssten unsere Kinder "fit machen" für den Arbeitsmarkt. Ein entsetzliches Wort, finde ich, weil es doch zurichten, abrichten, herrichten für etwas assoziiert. Diese Sprache und die dahinterliegende Denkweise liegen in einem Trend, bei denen ökonomische Gesichtspunkte mehr und mehr soziale und ethische Gesichtspunkte verdrängt haben. In diesem Trend liegt es übrigens auch, Zuwanderer in "nützliche" und "unnütze" einzuteilen. Ich wiederhole mich: In den Köpfen muss mehr sein, als die Fähigkeit, sich im Konkurrenzkampf durchzusetzen. Auch in der Schule sollte es Zeiten und Orte geben, die Fragen der Orientierung und der Werteerziehung vorbehalten sind. 

Das Diskutieren und Nachdenken über ethische Fragen braucht mehr Zeit, als in den Lehrplänen der meisten Fächer vorgesehen ist. Deshalb plädiere ich nach wie vor für einen Wahlpflichtbereich Religion/Philosophie/Ethik. Der Berliner Fall sagt meiner Ansicht nach viel darüber aus, welchen Stellenwert die Werteerziehung in unserer heutigen Gesellschaft hat. Ich kann es noch naiver sagen: Kann unsere Gesellschaft es sich wirklich leisten, dass Mathematik, Englisch, Informatik obligatorisch sind, nicht aber ein Fach, in dem es ausdrücklich um Orientierungswissen geht? Ich glaube nicht. Eine einseitige Ausrichtung auf den Arbeitsmarkt und die Vernachlässigung der anderen Dimension von Bildung und Erziehung halte ich für eine Engführung, die letztlich den demokratischen Wertekonsens gefährdet. 

Dass immer mehr junge Menschen auf skrupellose politische Rattenfänger hereinfallen, lässt jedenfalls daran zweifeln, dass ihnen Lebenssinn, Orientierung und demokratische Werte überzeugend vermittelt worden sind. Ich fürchte, wir haben uns zu lange in der Sicherheit gewähnt, der Wert von Freiheit und Gerechtigkeit, Toleranz und Solidarität würde sich nach 50 Jahren Demokratie in der Bundesrepublik (jedenfalls im westlichen Teil) gewissermaßen von selbst und umfassend an die nächste Generation vermitteln. Ich wiederhole mich: Wenn es auch in Zukunft demokratisch zugehen soll, brauchen wir Erziehung zur verantwortlichen Freiheit. Junge Menschen müssen lernen, Gleichheit von Ungleichheit, Recht von Unrecht, Freiheit von Beliebigkeit zu unterscheiden. Selbstverständlich stehen Staat und Politik zuerst in der Pflicht, den Sinn und Wert demokratischer Prinzipien zu erläutern, zu begründen, zu vermitteln und dafür immer neu zu werben. Aber dazu werden auch Familie und Schule gebraucht. Die dritte Gruppe, die Kirchengemeinde, spielt ja keine so große Rolle mehr. 

Die letzte Shell-Jugendstudie - Sie kennen sie alle - ist zu einem unausgesprochen entmutigenden Ergebnis gekommen, über das ich mich sehr geärgert habe. Erziehung durch gesellschaftlich gewünschte Sozialisationsinstanzen verfange einfach nicht mehr, so behaupten die Autoren. Daher sei es auch Unfug, von Wertevermittlung oder Sinnstiftung zu reden und in politischen Diskussionen den Mut zur Erziehung zu fordern. Wenn sie auch eine allgemeine Stimmung wiedergeben – mir klingt das, was die Shell-Autoren an dieser Stelle über Erziehung sagen, viel zu sehr nach Resignation, nach voreiliger und verantwortungsloser und falscher Resignation. Der Zulauf zu Sekten oder zu rechtsextremen Gruppen ist für mich jedenfalls ein alarmierendes Zeichen dafür, dass junge Menschen heute mehr denn je Orientierung und Sinn und Beheimatung suchen. Um so wichtiger ist, dass die demokratisch verankerten Institutionen nicht resignieren, sondern den Mut und die Kraft zur Werteerziehung aufbringen. 

Gerade eine kulturell vielfältige Gesellschaft muss ein vitales Interesse daran haben zu klären: Welche gemeinsamen Werte teilen wir über kulturelle Grenzen hinweg? Auf welche Werte müssen wir uns verständigen, um Konsens im gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht zu gefährden? Das Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft kann niemals konfliktfrei verlaufen, das sollte man nicht erwarten. Darauf hat Wilhelm Heitmeyer schon vor Jahren hingewiesen. Statt kulturbedingte Konflikte zu leugnen, zu verdrängen oder zu unterdrücken, muss interkulturelle Erziehung die Bereitschaft und die Fähigkeit ausbilden, Spannungen auszuhalten und Konflikte friedlich zu lösen. Wie gut Integration und Zusammenleben gelingen, das hängt davon ab, wie wir mit Differenzen und Missverständnissen, mit Unsicherheiten und Befremdung umgehen. Fehlt es schlicht und einfach an der offenen und angstfreien Haltung, derer die interkulturelle Verständigung bedarf? Aber – das will ich ausdrücklich betonen – die Verständigung untereinander braucht auch die Rückbindung an das, was man als das jeweils Eigene erkannt hat. 

Der Pluralismus der Kulturen, der Weltanschauungen, der Religionen ist kein Wert an sich. Er würde letztlich in Beliebigkeit, in Gleichgültigkeit enden. Interkulturelle Erziehung sollte deshalb nicht nur darauf zielen, dass junge Menschen fremde Überzeugungen verstehen, sondern auch darauf, dass junge Menschen eigene Auffassungen entwickeln und vertreten können. Die Stärkung des Individuums, seiner Selbstverantwortung und Urteilskraft ist eine der wichtigsten Aufgaben von Erziehung in einer entgrenzten, multi-ethnisch geprägten Gesellschaft. Der Einzelne muss heute mehr denn je lernen, mit seinen Ängsten umzugehen – mit Ängsten von einer zunehmend ungewiss erscheinenden Zukunft, mit Ängsten von neuen Herausforderungen und Überforderungen, mit Ängsten vor Fremden, Anderen, Unbekannten. Ich weiß, dass mit beinahe ritueller Regelmäßigkeit den Schulen vorgeworfen wird, dass sie ihre Aufgaben nicht oder nur unvollständig erfüllen. Da wird gefordert, dass Schule mehr Basiswissen vermittelt – etwa im Zuge der TIMMS-Studie – und besser aufs Berufleben vorbereitet, dass Schule Medienkompetenz und soziale Kompetenz vermittelt – dass sie politische Bildung und Werteerziehung leistet, dass sie Fremdsprachen und interkulturelle Bildung einübt. Wie soll das alles in den Lehrplänen untergebracht werden? Was ich mir wünsche, wage ich nur halblaut zu sagen: dass Sie mit an der Spitze derer marschieren, die unsere Lehrpläne aufräumen. 

Wenn es denn stimmt - und das sagen wir doch alle -, dass wir künftig lebenslänglich lernen müssen, dass man nicht einen Beruf erlernt für sein ganzes Leben, sondern mehrere, dass sich das berufliche Wissen viel schneller verändert und schneller veraltet: Könnte man daraus nicht die Konsequenz ziehen, dass ein beträchtlicher Teil des Wissens, das wir bisher in der Schule vermitteln, in den Bereich der beruflichen Bildung gehört? Diesen Teil könnten wir in der beruflichen Ausbildung erlernen, wieder vergessen, wieder etwas neues lernen. In der Schule aber sollten die elementaren Fähigkeiten, Qualifikationen, Verhaltensweisen zum Gegenstand von Bildung und Erziehung werden. 

Lassen Sie uns also neu darüber streiten, wie wir Kinder – auch über kulturelle Grenzen hinweg – zu mündigen Bürgern bilden können: selbstverantwortlich und solidarisch, tolerant und konfliktfähig, in der eigenen kulturellen Identität verwurzelt und offen für andere. Das ist für mich das Bildungs- und Erziehungsideal einer pluralen, demokratischen Gesellschaft. Und dafür arbeiten doch Sie vor allem. Wer sonst? 

Herzlichen Dank fürs Zuhören.

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