"Deutschland ist längst eine
mehrkulturelle
Gesellschaft geworden, eine Gesellschaft also,
in der
Angehörige verschiedener
Kulturen
und Traditionen leben"Wissensgesellschaft,
Rechtsextremismus und
Demokratiekompetenz
Wolfgang Thierses
"Lübecker Appell" an die Lehrer
Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse,
beim 24. Gewerkschaftstag der GEW am 6. Mai 2001 in Lübeck
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich will mit einem kleinen Erlebnis beginnen: Vor ein paar Monaten war ich in
einer
ostthüringischen Stadt. Dort hatten mich Schüler eines Gymnasiums
eingeladen, ich sollte ihnen
gewissermaßen zu Hilfe kommen. Was war passiert? Sie erzählten mir in einem
Gespräch, dass sie
sich seit einigen Monaten nicht mehr auf den Marktplatz dieser Stadt trauen.
Denn dort stünde
immer ein Lieferwagen, und darin säßen ein paar Glatzköpfe mit
Baseballschlägern. Wenn die
jungen Leute, mit denen ich sprach - die nach meiner Wahrnehmung nichts
Auffälliges an sich
haben - sich dort auf den Marktplatz wagten, dann kamen diese heraus und
haben sie vertrieben.
Sie erzählten weiter: "Wir haben erst richtig begriffen, was mit uns
passierte, als wir eines Tages in
einer Gaststätte saßen. Da kamen ein paar Glatzköpfe rein, beschimpften
uns. Es passierte uns
nichts - der Wirt war ja da -, die Glatzköpfe gingen raus und warteten
draußen." Die jungen Leute
haben sich mehrere Stunden lang nicht getraut, die Gaststätte zu verlassen.
Sie sagten: "Da haben
wir begriffen, dass wir in unserer eigenen Heimatstadt Gefangene sind und
dass wir uns irgendwie
wehren müssen." Sie haben mit Lehrern an ihrer Schule gesprochen, haben
sie zu Verbündeten
gewonnen, haben zusammen eine Initiative gegründet, haben mit
Kommunalpolitikern gesprochen,
sind zu einer Versammlung des Kommunalparlaments, des städtischen Parlaments
gegangen.
Der
Bürgermeister hat das abgewehrt, weil er - vertrauter Mechanismus - den
Imageschaden für die
eigene Stadt befürchtete.
Die jungen Leute haben mich also eingeladen, und wir haben in der Turnhalle
das war der größte Saal der Stadt - eine Bürgerversammlung gemacht. Es
waren mehrere hundert Leute da, was für eine kleine Stadt ja wirklich viel ist.
Ich habe gesagt: "Seht doch, ihr seid die Mehrheit, ihr müsst es euch nur
immer wieder wechselseitig zeigen, und die Erwachsenen dürfen die jungen Leute
nicht alleine lassen."
Ich erzähle das, um eine Erfahrung zu übermitteln,
die man nicht durch Lektüre von Zeitungsberichten oder Analysen oder
Verfassungsschutzberichten gewinnen kann. Die Erfahrung, die ich vielfach
gemacht habe und die
mich bestürzt hat: wie viel Angst bereits wieder herrscht unter jungen
Leuten vor Gewalt, vor
rechten Schlägern.
Gibt es
ein Handeln
nach all dem Gerede?
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Debatte um Rechtsextremismus,
Ausländerfeindlichkeit,
Gewalt ist in Deutschland in vollem Gange. Das ist gut so angesichts der
dramatischen Zahl
rechtsextremistischer Taten. Aber wer glaubt, inzwischen sei alles gesagt
oder getan, der täuscht sich. Wenn ein Teilnehmer nach einem Kongress über Rechtsextremismus die
Frage stellt: "Gibt es
ein Handeln nach all dem Gerede?", dann stimmt das mehr als nachdenklich
in vielerlei Hinsicht.
Wird so viel geredet und so wenig gehandelt? Ist die Erwartungshaltung an
Staat und Politik zu
hoch? Fehlt es an wirklicher effektiver Zusammenarbeit derer, die sich wehren
wollen?
Nun wissen
wir: Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit sind keine Probleme, die
schnell gelöst werden
können. Dazu sind ihre Ursachen viel zu komplex, ihre Wurzeln zu stark und
in der Mitte der
Gesellschaft angesiedelt. Vor drei Tagen, am Donnerstag, war ich in
Vorpommern unterwegs in
dieser Sache, und da haben mich Journalisten gefragt: "Herr Thierse, was
meinen Sie denn? Vor
knapp zwei Jahren haben Sie öffentlich die Debatte nicht losgebrochen, aber
ihr doch noch einmal
einen Schub gegeben, mit energischen Bemerkungen. Hat sich irgendetwas
geändert?" Und da war
meine Antwort und ist meine Antwort: "Es ist widersprüchlich. Das
Problem selbst ist nicht besser
geworden. Das Problembewusstsein immerhin, das ist ein Fortschritt
das Problembewusstsein
in der Öffentlichkeit ist ein anderes geworden."
Im Verfassungsschutzbericht 2000 sind rund 1000 Gewalttaten mit einem
erwiesenen oder zu
vermutenden rechtsextremistischen Hintergrund erfasst. Das ist gegenüber dem
Jahr 1999 ein
Anstieg um ein Drittel, um 33 Prozent. Insgesamt ist die Zahl der
rechtsextremistischen Straftaten
um fast 60 Prozent auf knapp 16.000 gestiegen. Die Täter sind sehr häufig
Schüler, Azubis, junge
Arbeitslose. Und wir, die Gesellschaft, wir sind jedes Mal schockiert, wenn
eine solche Tat passiert.
Aber es ist schon etwas erreicht, wenn die Medien dem Problem nun größere
Aufmerksamkeit
schenken und es ausführlich beleuchten, ohne die nächste Gewalttat
abzuwarten. Denn das hat
mich immer geärgert: der konjunkturelle Umgang der Medien mit dem Thema. Es
passiert etwas,
zwei Tage Aufregung, dann wieder Ruhe. Das ist anders geworden. Das
Problembewusstsein ist
geschärft. Damit tragen auch die Medien der Erkenntnis Rechnung, dass
rechtsextreme,
ausländerfeindliche, antisemitische Gewalttaten nur die Spitze des Eisbergs
sind.
Rechtsextreme,
ausländerfeindliche,
antisemitische Gewalttaten sind
dramatische
Warnzeichen für die Ausbreitung von
Vorurteilen und Hass gegen alles, was fremd ist
und gegen jeden, der fremd erscheint
Sie sind
dramatische Warnzeichen für die Ausbreitung und Wirksamkeit rechtsextremer
Einstellungen von
Vorurteilen und Hass gegen alles, was fremd ist und gegen jeden, der fremd
erscheint. Etwas, was
sich unterschwelliger ausbreitet. Aber wer dem latenten Extremismus der
Rechten nicht
widerspricht, wird den manifesten und gewalttätigen Extremismus nicht in die
Schranken weisen
können.
Was genau geht in den Köpfen von jungen Menschen vor, die Ausländer,
Obdachlose, Behinderte
beleidigen, anpöbeln, verfolgen und zu Tode prügeln? Ein immer wieder
quälender Gedanke, eine
quälende Frage.
Zahlreiche Untersuchungen haben viele Ursachen zu Tage
gebracht. Ich will sie
hier nicht ausführlich referieren. Ich nehme an, Sie kennen die
einschlägigen Untersuchungen.
Aber ein paar Stichworte: Die Globalisierung, die dramatischen
Veränderungen, die damit
verbunden sind und die das erzeugen, was ich Überforderungsängste und
Vereinfachungsbedürfnisse nenne. Die Sorge um die materielle Sicherheit, die
Erfahrung von
Arbeitslosigkeit oder die Angst vor Arbeitslosigkeit. Die Konkurrenz um
Arbeitsplätze, die
Radikalität und der Umwälzung in Ostdeutschland mit den Folgen von
Unsicherheit und
Desorientierung. Und als letztes Stichwort: der Tabubruch, der den wohl
letzten großen
gesellschaftlichen Konsens aufkündigt und der die eindeutige Absage an die
menschenverachtende
nationalsozialistische Ideologie enttabuisiert, um zu provozieren.
Ich weiß: Nur zu analysieren reicht nicht, ebenso wenig wie regelmäßig
Zivilcourage und
Gegenwehr einzufordern, ohne zu sagen, wie sie denn entstehen. Zivilcourage,
wir wissen das, hat
man nicht einfach von Geburt an. Sie entsteht durch Bildung, durch Erziehung
im Elternhaus, in
der Schule, in der Ausbildung, in der engeren und weiteren sozialen Umgebung
- durch die
Erfahrung übrigens auch, dass man nicht alleine ist. Heldenmut ist nicht
das, was man aus dem
Western kennt, sondern ist immer die Erfahrung, dass man mit anderen zusammen
etwas ausrichten
kann.
Völlig verquere Ideologien fallen immer dann auf fruchtbaren Boden,
wenn Lebenssinn,
wenn Orientierung, wenn demokratische Werte nicht überzeugend vermittelt
worden sind. Wenn
die Anerkennung der eigenen Persönlichkeit und der anderen nicht oder nur
vermindert vorhanden
ist. Eine weitere Bemerkung: Junge Menschen, die nur auf das Berufsleben
vorbereitet werden,
sind nicht unbedingt in der Lage, den Herausforderungen der demokratischen
Gesellschaft zu
entsprechen. Ich komme noch einmal darauf zurück. Ich will jetzt nur sagen:
Die meisten jungen
Menschen wissen zwar, dass sie in einer Demokratie leben, aber viele wissen
nicht, wie sie
funktioniert.
Demokratische Politik ist ein komplizierter, langwieriger und oft auch
mühsamer Prozess des
Aushandelns von Konsensen oder Kompromissen, von unterschiedlichen Meinungen
und
Interessen, Ideen, Vorschlägen, Forderungen. Demokratie lebt von
unterschiedlichen Auffassungen
und zehrt von der Auseinandersetzung, der Beteiligung, von Zuhören und
Mitwirken. Kritische
Informiertheit, Teilnahmebereitschaft, Gemeinsinn und Toleranz sind
unverzichtbare Kompetenzen
für das Funktionieren einer Demokratie. Und sie werden immer wichtiger,
gerade in Zeiten
beschleunigten Wandels.
An dieser Stelle erlaube ich mir die Nebenbemerkung:
Gerade das ist im
Osten Deutschlands noch einmal ein besonderes Problem. Nicht, weil wir da
dümmer wären,
sondern weil wir - 10 Jahre sind keine lange Zeit - weniger Erfahrungen mit
Demokratie gemacht
haben, weil die Ostdeutschen die Aneignung der Demokratie leisten mussten in
Zeiten eines
dramatischen Umbruchs, der so viele verunsichert hat und eine beträchtliche
Menge von Opfern
gefordert hat. Deshalb ist demokratische Bildung in Ostdeutschland von
besonderem Gewicht.
Nun ist es richtig: Staat und Politik sind zuallererst gefordert, den Sinn
und Wert demokratischer
Prinzipien zu erklären, zu begründen, zu vermitteln und dafür immer neu zu
werben. Wenn ich das
sage, meine ich nicht an erster Stelle, dass Politiker in besonderer Weise
vorbildhafte Menschen
sein müssen. Heiligkeit von ihnen zu verlangen, ist eine Illusion. Sie
sollen nicht mehr und nicht
weniger tun als erkennbar für das Gemeinwohl zu arbeiten. Das ist der
Maßstab, an dem ich
Politiker gerne gemessen sähe.
Bezogen auf das Thema, das uns bewegt, will
ich aber eine
ausdrückliche Aufforderung an meine Berufskollegen richten: Es gibt ja, wie
wir sehen, kaum ein
Thema, das so emotions-, angst-, vorurteilsbesetzt ist wie das ganze Thema
Zuwanderung, Umgang
mit Ausländern, Asyl, Integration - welchen Namen wir ihm immer geben. Weil
das so ist, haben
Politiker die besondere Verantwortung, so sachlich, so differenziert wie
irgend möglich mit diesem
Thema umzugehen und nicht ihrerseits Ängste, Vorurteile und Emotionen zu
schüren,
möglicherweise um eines billigen parteitaktischen Vorteils willen.
Staat und Politik, Justiz und Polizei
haben ihre Pflicht
zu tun, den Rechtsstaat
zu
verteidigen, die Schwachen zu schützen
Noch
etwas will ich
ausdrücklich sagen: Staat und Politik, Justiz und Polizei haben ihre Pflicht
zu tun, den Rechtsstaat
zu verteidigen, die Schwachen zu schützen. Dazu gehört auch der Antrag auf
das Verbot der NPD.
Keiner sagt, dass das die Lösung des Problems wäre. Wir wissen, Gesinnungen
kann man nicht
durch ein Verbot beseitigen. Aber dieses Verbot richtet sich dagegen, dass
die organisatorische
Basis der Verbreitung von rechtsextremistischer Ideologie weiter besteht.
Wenn ich eine
persönliche Bemerkung hinzufügen darf: Sie können sich vorstellen, wie
sehr es mich ärgert, dass
ich als Bundestagspräsident nach dem geltenden Recht dazu verpflichtet bin,
auch der NPD
staatliche Finanzmittel zuzuweisen. Denn so lange eine Partei legal ist, an
Wahlen teilnimmt,
Wählerstimmen bekommt, Parteimitgliedsbeiträge einzieht und Spenden
bekommt, bin ich
verpflichtet, einen entsprechenden Anteil an staatlichen Finanzmitteln
zuzuweisen. Diesen
unerträglichen Zustand, dass der demokratische Staat gewissermaßen seine
Gegner mitfinanziert,
den können wir erst beenden durch ein Verbot dieser Partei. Auch deshalb ist
dieser Verbotsantrag
sinnvoll. Aber es ist klar: Das ist nicht die Lösung des Problems, sondern
nur die Wiedererrichtung
eines politisch-moralischen Tabus, das ein Verbot ja ist.
Es geht langfristig vor allem um Bildungsarbeit. Das ist der eigentliche
Punkt, um den es uns gehen
muss. Sie ist aber nur im Verbund von Staat, Elternhaus, Jugendarbeit und
Schule zu leisten. Das
ist zwar eine Trivialität, aber trotzdem versucht immer wieder der eine, die
Verantwortung auf den
anderen zu schieben. Ich las neulich wieder einmal in einem Artikel, dass
Lehrer die Unterstützung
des Elternhauses bei ihrem Bildungsauftrag vermissen. Ich lese oft, dass die
Schulen als
"Leerstellen" tituliert werden, wenn es um politische
Bildungsarbeit geht, und die Institutionen der
Jugendarbeit klagen über fehlende finanzielle Mittel. Das ist der
Alltagszustand, ein Zustand
wechselseitiger Vorwürfe. Doch wie so oft liegt darin ein beträchtliches
Maß an Wahrheit. In
vielen Städten und Gemeinden wird Jugendarbeit schlicht vernachlässigt,
weil zu wenig Geld zur
Verfügung steht.
Wer jetzt bei der Jugendarbeit spart,
muss in ein
paar Jahren erheblich
mehr zuzahlen
Ich sage es auch hier, was ich bei allen meinen Reisen und
Gesprächen mit
Kommunalpolitikern sage: Wer jetzt bei der Jugendarbeit spart, muss in ein
paar Jahren erheblich
mehr zuzahlen. In Ostdeutschland fehlen zudem häufig die Strukturen für
eine umfassende und
kreative Jugendhilfearbeit. Aber außer zu wenig Jugendarbeit kann man auch -
wenn ich das etwas
polemisch zugespitzt sagen darf - die falsche machen. So hat das westdeutsche
Konzept der
akzeptierenden Jugendarbeit, entwickelt in friedlicheren Zeiten unter ganz
anderen
Voraussetzungen, in Ostdeutschland eher problematische Wirkung. Ich kenne
selber viele
Beispiele, wo - vielleicht mit Ungeschick und ungenügend - versucht worden
ist, mit diesem
Konzept zu arbeiten und das Ergebnis war, dass die Rechtsextremen den
Jugendclub in Besitz
genommen haben. Ich will ausdrücklich sagen: Das muss nicht am Konzept der
akzeptierenden
Jugendarbeit liegen, aber möglicherweise an der allzu umstandslosen
Übertragung auf ganz andere,
schlimmere Verhältnisse, und darüber muss man diskutieren. Vielerorts wird
ja in Kauf genommen,
dass die Rechtsextremisten den Jugendclub in Besitz genommen haben, weil man
sich vor dem Ruf
fürchtet, eine rechtsextreme Szene in der eigenen Gemeinde oder Stadt zu
haben. Schließlich
verschwindet sie ja so von den Straßen und Plätzen in die
Jugendeinrichtung, wird unsichtbar.
Statt
also offensiv diesen Tendenzen entgegen zu treten, wird das Thema tot
geschwiegen.
Ein weiterer Punkt, an dem es besonders delikat ist, pointiert zu reden: Ich
will hier nicht
verallgemeinern, aber so wie ich es sehe, meinen allzu viele Eltern
irrtümlich, dass bei Eintritt ihrer
Kinder in die Schule das Notwendigste im Elternhaus geleistet worden sei und
nun die Schule am
Zuge sei. Polemisch überspitzt kann man bezogen auf das Thema, das uns
hier beschäftigt von
einem Versagen eines großen oder beträchtlichen Teils der Eltern sprechen.
Denn es ist doch so,
dass die Eltern die ersten Ansprechpartner, das Gegenüber sind, dass in der
Familie gewissermaßen
geborgen durch die Liebe der Familienmitglieder Auseinandersetzung und
Solidarität gelernt wird.
Nirgendwo sonst als in der Familie, als in der Auseinandersetzung und im
Zusammenhalt zwischen
Eltern und Kindern kann man lernen, was gewaltfreie Auseinandersetzung ist.
Aber offensichtlich
ist einem Teil der Eltern die Kraft, die Fähigkeit verloren gegangen aus
Gründen, die auch mit.6
ökonomischen oder sozialen Verhältnissen zu tun haben. Man muss dies
aussprechen:
Offensichtlich gibt es hier ein dramatisches Manko in unserer Gesellschaft.
Erst dann, erst jetzt komme ich zur Schule, die natürlich in einer
besonderen Verantwortung steht.
Mit einer beinahe rituellen Regelmäßigkeit wird die Schule kritisiert, weil
sie nicht ausreichend
Wissen und Werte vermittelt habe, um die jungen Menschen resistent für die
Politik- und Ideologieangebote des Rechtsextremismus zu machen. Als ich am Donnerstag in
diesem
Gymnasium in Vorpommern war, da haben mir die Schüler gesagt: "Wir
wünschen uns besser
ausgebildete Lehrer, die uns mehr sagen über Geschichte,
Nationalsozialismus, über Vorurteile,
über Ursachen von Rechtsextremismus und was man dagegen tun kann."
Diese Art von Kritik
erzeugt immer dieselbe Reaktion. Die Forderung nach mehr und qualifizierter
politischer Bildung
wird als eine Zumutung zurückgewiesen, weil Lehrer und Lehrerinnen sich als
Feuerwehr für
gesellschaftliche Missstände missbraucht sehen. Eine verständliche
Reaktion, denn in der Tat kann
Schule nicht kurzfristig reparieren, was sich in der Gesellschaft langfristig
entwickelt hat und was
über Jahre hinweg auch falsch gewichtet worden ist. Aber Schule kann doch
langfristig präventiv,
nachhaltig wirksam die Grundwerte zivilen Zusammenlebens vermitteln.
Schule
sollte ein
wichtiger Lernort fürs Leben sein. Hier können Kenntnisse vermittelt,
Erfahrungen ermöglicht und
Verantwortlichkeiten entwickelt werden. Ob Klassenverband, Teamarbeit oder
Schülerpolitik
intensiver als hier ist nicht zu erfahren, was es heißt, sich argumentativ
durchzusetzen, sich
zurückzunehmen, eigene Stärken und Schwächen im Vergleich zu anderen
wahrzunehmen und
anerkannt zu werden. Die Schule muss ein Ort für solche Erfahrungen sein.
Gerade dann, wenn wir
und darin sind wir uns doch jetzt wirklich einig an dem eigentlichen
Erziehungsziel festhalten
und darauf hinarbeiten wollen: Wir brauchen Erziehung zu verantworteter
Freiheit. Das bedeutet
zugleich Befähigung zum Urteil und zur Verantwortung.
In den Köpfen muss mehr sein als die Fähigkeit, sich im Konkurrenzkampf
durchzusetzen. Dafür
arbeiten wir doch, dafür arbeiten Sie doch, liebe Kolleginnen und Kollegen,
dass der Mensch nicht
alleine ein Homo oeconomicus ist.
Wir sind uns hoffentlich einig, dass der
Mensch nicht reduziert
werden darf auf seine beiden marktgemäßen Rollen, nämlich Arbeitskraft und
Konsument zu sein.
Er hat auch noch andere Dimensionen seines Menschseins, die zu erproben, die
zu erfahren, die zu
leben sind trotz der Zwänge, denen wir als Wirtschaftswesen unterworfen
sind. Die Reduktion
auf die beiden marktgemäßen Rollen ist unmenschlich, weil sie die Würde
des Menschen antastet.
Der Mensch muss auch im Scheitern seine Würde bewahren im eigenen ebenso
wie im Umgang
mit dem Scheitern des Nächsten. Er muss wissen, wie man mit eigenen
Defiziten und mit.7
Niederlagen umgeht. Es ist Zeit, dass man die aktuellen Debatten um die
Wissensgesellschaft mit
der Debatte um den Rechtsextremismus verknüpft. So wichtig es wird das
ist unbestreitbar mit
dem Internet umzugehen und komplizierte Wirtschaftsstrukturen zu
durchschauen, so wichtig ist es
auch zu wissen, welche Rechte und Pflichten man in der Demokratie hat, was
Toleranz wirklich
bedeutet. Wem das nicht klar ist, der sollte sich überlegen, wohin Medien-
und
Wirtschaftskompetenz ohne Demokratiekompetenz führt.
Deutschland ist längst eine
mehrkulturelle
Gesellschaft geworden, eine Gesellschaft also,
in der
Angehörige verschiedener
Kulturen
und Traditionen leben
Wenn das ökonomische
Lernen nicht
durch soziales, politisches und ethisches Lernen begleitet wird, dann
fördert die Schule doch genau
jenes übersteigerte Wohlstands- und Konkurrenzdenken, auf das wir für eine
tolerante und
solidarische Gesellschaft nicht aufbauen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
es ist nicht möglich, auf ethnisch eindimensionalen Inseln zu leben.
Deutschland ist längst eine
mehrkulturelle Gesellschaft geworden, eine Gesellschaft also, in der
Angehörige verschiedener
Kulturen und Traditionen leben. Deshalb brauchen wir interkulturelle Bildung,
und deshalb
möchte ich im Folgenden etwas ausführlicher eingehen auf den Zusammenhang
zwischen
Migration und interkultureller Bildung.
Ich beginne mit einem Zitat aus einem
Kinderaufsatz: "Als
ich in die Moschee reinging, dachte ich, ich wäre in einem Palast. Ich
fühlte mich reich, ich fühlte
mich wie der König von Deutschland. Ich war von dem Teppich richtig
verzaubert." Dieser
orientalische Zauber, den deutsche Kinder während eines Schulausflugs in
eine Moschee erlebten,
hat nicht nur ihre Phantasie beflügelt. Er hat auch ihre Neugier geweckt auf
die Religion und Kultur
der moslemischen Mitschülerinnen und Mitschüler. Ich zitiere weiter:
"Wir durften Fragen stellen.
Die Antworten waren sehr interessant und wir durften auch mit denen beten.
Das war sehr schön!"
Wenn man solche Sätze liest, glaubt man kaum, dass diese Kinder aus einer so
genannten
Problemklasse kommen. Es ist die sechste Klasse eines
nordrhein-westfälischen Gymnasiums, in
dem rund die Hälfte der Kinder muslimischen Glaubens sind.
"Kloppen", wie sich die Schüler
ausdrücken, gehört dort zum Alltag. Wegen der zahlreichen Konflikte und
Aggressionen zwischen
den türkischen und den deutschen Schülern hatte sich die Lehrerin zum
Moscheebesuch
entschlossen, mit nachhaltigem Erfolg. Den deutschen Kindern hat dieser
Besuch eine neue,
respektvollere Sicht auf die Lebenswelt ihrer türkischen Mitschüler
eröffnet, und die türkischen
Schüler waren stolz und erleichtert, dass den deutschen der Besuch so gut
gefallen hat.
Dieser gemeinsame Moscheebesuch ist ein ganz kleines, aber doch gelungenes
Beispiel dafür, wie
sich deutsche Kinder und Migrantenkinder im gegenseitigen Respekt näher
kommen können. Doch
längst nicht immer haben solche kleinen Schritte so große Wirkung. Wir
wissen, dass das
gemeinsame Leben und Lernen von Kindern deutscher und ausländischer
Muttersprache alles
andere ist als eine Idylle. Das wissen Sie aus dem Schulalltag viel besser
als ich.
Zu vieles irritiert,
provoziert im täglichen Miteinander: unterschiedliche Lebensgewohnheiten,
Sitten, Gebräuche,
fehlende Sprachkenntnisse, eine andere Einstellung zu Glaube und Religion vor
allem bei den
Muslimen. Die aktuellen politischen Diskussionen sind denn auch, wenn ich es
recht sehe, vielfach
von Abwehr geprägt. Ob es um die doppelte Staatsbürgerschaft ging oder um
die Greencard, den
islamischen Religionsunterricht oder das Tragen von Kopftüchern. Das Ringen
um die Frage, wie
wir mit kultureller Vielfalt umgehen, gipfelte - obwohl das Wort
"gipfelte" hier eigentlich falsch ist
in der inzwischen so genannten Patriotismusdebatte. Der Sache förderlich
war daran zumindest
eins: Endlich besteht erklärtermaßen Konsens darin, dass Deutschland ein
Einwanderungsland ist
und dass wir daraus Konsequenzen ziehen müssen. Gelegentlich muss man daran
erinnern, dass das
20 Jahre lang tabuisiert war: Deutschland war kein Einwanderungsland, obwohl
die Zahl der
Bürger ausländischer Herkunft ständig zunahm. Auch das ist im Rückblick
ein politisches
Lehrstück.
In Deutschland leben - Sie kennen die Zahl - 7,4 Millionen Ausländer oder
Bürger ausländischer
Herkunft, viele davon bereits in zweiter oder dritter Generation. Sie als
Ausländer zu bezeichnen,
ist im Grunde höchst problematisch. Viele sind in Deutschland geboren. Sie
sind in Berlin, Köln
oder München aufgewachsen und zur Schule gegangen und damit zweifellos Teil
unserer
Gesellschaft.
Die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts war ein
überfälliger Schritt zur
Anerkennung dieser schlichten Tatsache. Allein zwischen 1990 und 1999 wurden
950.000 Kinder
ausländischer Herkunft in Deutschland geboren, rund die Hälfte von ihnen
hat Anspruch auf
Einbürgerung. Bleiben werden wohl die meisten. Sie werden hier in die Schule
gehen, eine
Ausbildung absolvieren, hier leben und arbeiten. Kulturelle Vielfalt ist also
kein Übergangszustand,
sondern der Normalfall geworden. Lange Zeit konnten wir es uns leisten, die
zahlreichen Probleme,
die damit verbunden waren, zu verdrängen oder als Randphänomene abzutun.
Die erschreckende
Zunahme von Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus hat uns vor Augen
geführt, wie
drängend die Aufgabe ist, das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen auf
Dauer zu regeln und
zu gestalten.
Wie viel Gemeinsamkeit und welche Grundübereinstimmung braucht unsere
Gesellschaft, damit
sie möglichst viel Verschiedenes, möglichst viel Verschiedenheit leben und
aushalten kann? Das ist
die Grundfrage. Was sind die Bindekräfte einer Gesellschaft, die schon um
der eigenen
ökonomisch-sozialen Vitalität willen der Zuwanderung bedarf, die also mit
mehr ethnischen,
religiösen, kulturellen Differenzen wird rechnen und leben müssen? Wie kann
Integration gelingen,
wie weit kann und soll Integration gehen?
Bei der Beantwortung dieser Fragen
sind wir uns über
einige wesentliche Punkte einig geworden: Wer bei uns leben will, braucht
seine kulturelle
Herkunft nicht zu verleugnen, er muss aber die Grundwerte unserer Verfassung
und unsere
demokratischen Spielregeln akzeptieren. Das ist zwischen den demokratischen
Parteien unstrittig
ganz gleich, ob man das Verfassungspatriotismus oder normativen Konsens
nennt. Übrigens, die
meisten Muslime, die hier leben, wissen den Schutz unserer Verfassung, die
Offenheit dieser
Gesellschaft durchaus zu schätzen, und sie wissen, dass beides eng
miteinander zusammen hängt.
Wir können nur dann eine offene Gesellschaft bleiben, wenn sich keine Inseln
bilden, die außerhalb
unseres gesellschaftlichen Grundkonsenses liegen. Und solche Inseln sind
Rechtsextremismus und
sind auch Bürger ausländischer Herkunft, die sich nicht wirklich auf diese
Gesellschaft einlassen.
Damit bin ich beim nächsten Punkt: Wer zu uns kommt, der sollte bereit sein,
die deutsche Sprache
zu erlernen. Auch darüber besteht Konsens. Ohne gemeinsame Sprache kann
Integration nicht
gelingen. Es gibt Menschen aus anderen Ländern, die seit Jahrzehnten hier
leben und unsere
Sprache noch immer kaum oder gar nicht beherrschen. Nach einer Studie des
Essener Zentrums für
Türkeistudien hat sogar mehr als die Hälfte der türkischen Mitbürgerinnen
und Mitbürger
Probleme, Deutsch zu verstehen. Da geht es nicht nur um eine unziemliche
Forderung der
Mehrheitsgesellschaft an die Minderheit, sondern auch um die Chancen dieser
Minderheit.
Vor ein
paar Monaten waren Türkinnen aus Kreuzberg bei mir im Büro, die an einem
Deutschunterricht an
der Volkshochschule teilnehmen. Ich fragte sie, seit wann sie in Deutschland
sind: teilweise seit 20,
30 Jahren. Dass sie nicht Deutsch können, hat dazu geführt, dass sie
ausgeschlossen sind vom
sozialen, kulturellen Leben, abhängig von ihrem Mann, eingesperrt in die
Familie. Barbara John,
die Berliner Ausländerbeauftragte, hat das Problem jüngst in erfrischender
Deutlichkeit
ausgesprochen und damit der Diskussion um Sprachkurse Auftrieb gegeben. Ob am
Ende eine
Verpflichtung auf Sprachkurse steht oder bessere Anreize: Ich jedenfalls
halte es für notwendig,
dass wir das Angebot an Sprachkursen und vor allen Dingen auch ihre Akzeptanz
vergrößern. Wie
sollen Zuwanderer in unserem Land heimisch werden, wenn sie nicht einmal
seine Sprache
verstehen? Und vor allem: Wie soll die schulische und berufliche Integration
ihrer Kinder gelingen,
wenn sie vom Elternhaus dabei nicht unterstützt werden, nicht unterstützt
werden können? Kinder
zu fördern und fordern gehört in erster Linie zum Erziehungsauftrag der
Eltern.
Sicher,
Pauschalisierungen sind hier wie an den meisten anderen Stellen fehl am
Platz. Viele
Migrantenkinder der zweiten oder dritten Generation sprechen Deutsch wie ihre
Muttersprache,
leben wie deutsche Kinder und fühlen sich heimisch. Aber es gibt ebenso
viele, die mit zwei
Kulturen aufwachsen und sich in keiner von beiden wirklich zu Hause fühlen.
Welche Folgen das hat, lässt sich an den Statistiken über den Schulerfolg,
über den
Ausbildungsstand und über die Chancen von Migrantenkindern auf dem
Arbeitsmarkt ablesen.
Obwohl der Bildungs- und Ausbildungsstand von Migrantenkindern in den letzten
Jahren leicht
gestiegen ist, liegt er immer noch weit unter dem deutscher Kinder.
Migrantenkinder sind immer
noch an den Haupt- und Sonderschulen deutlich überrepräsentiert, an den
Realschulen und
Gymnasien aber unterrepräsentiert. Jedes fünfte von ihnen verlässt die
Hauptschule ohne
Abschluss. Nicht einmal jedes Dritte schafft die Mittlere Reife, nur jedes
Elfte schafft die
Hochschulreife. Und vor allem: Etwa vierzig Prozent der türkischen
Jugendlichen bleiben ohne
Berufsausbildung. Die Arbeitslosenquote ist entsprechend hoch. Ohne
Schulabschluss, ohne
Berufsausbildung, ohne Arbeitsplatz haben diese Jugendlichen kaum eine Chance
auf
gesellschaftliche Integration. Die sozialen Probleme, die damit einhergehen
verstärkte
Rückzugstendenzen auf der einen und Ausgrenzungsmechanismen auf der anderen
Seite sind
sichtbar. Die schlechten schulischen Leistungen haben viele Ursachen, aber
Sprachprobleme sind
immer noch die wichtigste.
Migrantenkinder fühlen sich häufig wie
Analphabeten in zwei
Sprachen. Sie beherrschen oft weder ihre Muttersprache noch das Deutsche. Die
"Bildungskatastrophe der Migrantenkinder", so war in der
"taz" zu lesen, ist aber bisher kaum ins
öffentliche Bewusstsein gedrungen. Sie ist eine Hypothek der vergangenen
Jahrzehnte, in denen
man in Deutschland zunächst davon ausging, dass die meisten ausländischen
Familien bald in ihre
Heimat zurückkehren würden. Aber auch noch heute gelten Migrantenkinder als
Problemkinder.
Sie sind einem enormen Anpassungsdruck ausgesetzt, während deutsche Eltern
in Klassen mit
hohen Ausländeranteilen um das Niveau der Schulbildung fürchten und ihre
Kinder lieber in andere
Schulen schicken. Sie kennen das. Heute gibt es viele Klassen, in denen der
Anteil der
Migrantenkinder 40 % und mehr beträgt. Sprachschwierigkeiten, schulische
Misserfolge, schlechte
Berufsausbildung, Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt verstärken ihre
sozialen Probleme und
nähren damit wiederum die landläufigen Vorurteile gegen Ausländer, ein
teuflischer Kreislauf.
Bei der Integration von Kindern und Jugendlichen ausländischer Herkunft
spielen Schulen und die
Bildungsinstitutionen eine zentrale Rolle. Wer das sagt, setzt sich, zumal
bei der GEW, leicht dem
Vorwurf aus, er wolle den Schulen wieder einmal die Verantwortung für einen
besonderen,
besonders schwierigen gesellschaftlichen Missstand aufbürden. Nun will ich
es ausdrücklich
wiederholen: Ich bin weit davon entfernt, den Schulen eine Rolle als
Reparaturwerkstatt der
Gesellschaft aufbürden zu wollen. Doch wo sonst soll diese Gesellschaft sich
dem Problem
widmen? Bei aller Kritik an den Schulen: Wir haben keine andere große
Institution, jedenfalls
keine so gut funktionierende. Die Schule ist nun mal nicht nur für die
Bürger wie soll ich das
nennen "einheimischer" Herkunft, sondern auch ausländischer
Herkunft die zentrale
Sozialisationsinstanz. Und das ist auch gut so. Wir wollen das doch nicht
aufgeben.
Der Abgeordnete Cem Özdemir hat jüngst eine "Bildungsoffensive"
für Migrantenkinder gefordert
und hat dabei eine ganz gute Erfahrung herangezogen: Unsere Gesellschaft
müsse heute für
Migrantenkinder tun, was sie in den 60er und 70er Jahren für die
Arbeiterkinder getan habe: ihnen
den Weg zu höherer Bildung ebnen. Pädagogen und Bildungspolitiker
beschäftigen sich schon seit
Jahren mit der Frage, wie Migrantenkinder in der Schule optimal gefördert
werden können. So
unterschiedlich die Konzepte im Einzelnen sind, der Weg zur schulischen und
beruflichen
Integration von Migrantenkindern führt über eine möglichst frühzeitige
und kontinuierliche
sprachliche Förderung. An erster Stelle steht der Deutschunterricht, aber
auch die Entwicklung der
Muttersprache gehört an einigen Schulen, z.B. in Nordrhein-Westfalen, zum
integrativen
Lernkonzept. Pierre Bourdieu hat den Begriff des "kulturellen
Kapitals" geprägt. Die natürliche
Mehrsprachigkeit, die mit den Migrantenkindern in unsere Schulen kommt, ist,
denke ich, ein
solches enormes kulturelles Kapital, das wir annehmen, schätzen und nutzen
sollten. Nicht zuletzt
mit Blick auf eine zusammen wachsende Welt, in der die Kenntnis fremder
Sprachen und Kultur
immer wichtiger wird. Könnten wir das ist mein Appell die
Migrantenkinder, mit denen wir so
viele praktische Probleme haben, als ein solches großes kulturelles Kapital
akzeptieren und
aneignen?
Die Kultusministerkonferenz hat bereits 1996 die interkulturelle Erziehung
als
Schlüsselqualifikation bezeichnet. Im Schulunterricht wie auch in der
Lehrerausbildung an den
Hochschulen müsse interkulturelle Erziehung als Querschnittsaufgabe
begriffen werden. In der Tat:
Wo kulturelle Vielfalt zum gesellschaftlichen Normalzustand geworden ist, ist
auch und gerade
Schule gefordert, den Umgang mit kulturellen Differenzen einzuüben.
Allenthalben ist zu hören,
der Abschied von einer monokulturell ausgerichteten Pädagogik sei
überfällig. Doch - und jetzt
verstecke ich mich hinter einer Institution - das Zentrum für Türkeistudien
in Essen hat nüchtern
bilanziert, der Versuch zur interkulturellen Erziehung erschöpfe sich bisher
häufig in
Folkloreeinlagen im Sport- oder Musikunterricht und in südländischen
Spezialitätenständen auf
Schulfesten. Ich hoffe, das ist eine Verzerrung. Doch trotz einer Fülle an
pädagogischen
Konzeptionen, Entwürfen und Projekten ist bisher offenbar noch nicht recht
klar geworden, wie
interkulturelle Erziehung in der schulischen Praxis umgesetzt werden kann.
Interkulturelles Lernen
so hat es Lale Akgün vom Landeszentrum für Zuwanderung in Solingen
ausgedrückt ist weder
ein Förderunterricht zur Kompensation der Defizite von Migrantenkindern noch
ein
Antidiskriminierungstraining für einheimische Kinder, sondern ein
Bildungskonzept, das alle
Kinder, Lehrer und Eltern einbezieht und das die ganze Qualität der Schule
verändern soll. Das
freilich setzt voraus, dass Lehrerinnen und Lehrer nicht nur ihr Fachwissen,
sondern auch ihre
pädagogischen Qualifikationen für das interkulturelle Lernen einsetzen und
schulen.
Bisher öffnet der Schulunterricht vermutlich zu selten den Blick über den
Tellerrand der
europäischen Kultur. Verständigung und Austausch über kulturelle Grenzen
hinweg setzt aber die
Bereitschaft zum Perspektivwechsel voraus. Ich meine, dass mehr
Beschäftigung mit der
Geschichte anderer Kontinente, mit ihrer Kultur, ihren religiösen
Traditionen in die Lehrpläne
gehört.
Wie sollen deutsche Kinder Offenheit und Verständnis für ihre
ausländischen
Mitschülerinnen und Mitschüler entwickeln, wenn sie nichts oder kaum etwas
über deren Kultur
erfahren? Hier kann Schule in ihrer ureigenen Funktion als Vermittlerin von
Wissen vieles zur
interkulturellen Bildung junger Menschen beitragen. Um ein harmloses Beispiel
zu verwenden:
Kinder die wissen, warum türkische Frauen Kopftücher tragen, mögen das
trotzdem komisch
finden. Aber sie werden sich vielleicht nicht mehr gedankenlos darüber
lustig machen. Ignoranz
heißt "Nichtwissen", und aus Ignoranz entstehen schnell Ablehnung,
Abwehr und Ausgrenzung, im
schlimmsten Fall sogar Aggression und Gewalt.
Nun gibt es für zunehmende Gewaltbereitschaft und für zunehmenden Rassismus
keine
monokausale Erklärung. Man muss über verschiedene Ursachen reden. Ich
glaube, die
dramatischste Ursache sind (ich habe es vorhin schon genannt)
Überforderungsängste und
Vereinfachungsbedürfnisse von Menschen. Gerade in Zeiten der Umwälzung, der
Beschleunigung,
der Entgrenzung bedürfen junge Menschen aber der Selbstvergewisserung und
des Rückhalts.
Bleiben sie aus, sind junge Menschen leichter verführbar für Gruppen und
Beheimatungsangebote
der einfachen Art, wie sie die rechtsextremen Ideologen bieten.
Abgrenzung,
Abwehr, Aggression,
wie wir sie zur Zeit immer häufiger auch in ihren schlimmsten Auswüchsen
erleben, sind nicht
zuletzt eine Reaktion auf fehlende Selbstsicherheit. Kinder wachsen heute in
einem Nebeneinander
von verschiedenen, teilweise kontroversen Überzeugungen, Weltanschauungen,
Religionen und
politischen Positionen auf. Die Spannbreite der Pluralität ist heute so
groß, dass Orientierung zu
einer Hauptaufgabe von Bildung wird. Sicher, die Gesellschaft kann nicht ihre
Orientierungsprobleme einfach in der Schule abladen. Schule wäre
überfordert, sollte sie allein das
Defizit an Sinn, an Orientierung, an demokratischen Tugenden ausgleichen.
Aber Schule darf sich
auch nicht darauf zurückziehen, nur Kenntnisse und Fertigkeiten zu
vermitteln. Sie hat auch die
Verantwortung, Wertvorstellungen, Weltbilder und soziale Kompetenzen
weiterzugeben. Wenn wir
schon Bildung als die soziale Frage des 21. Jahrhunderts bezeichnen, dann
sollten wir nicht den
Fehler machen, die Debatte auf die Inhalte von Ausbildung zu reduzieren.
Beruflich verwertbare
Fertigkeiten sind wichtig, das ist unbestreitbar. Arbeitslosigkeit und
Perspektivlosigkeit sind
wichtige Ursachen für Rechtsextremismus, und gegen beides schützen gute
Ausbildung, berufliche
Perspektiven und verlässliche Aussicht auf Arbeit noch am besten. Doch mir
graust es immer
wieder vor dem Ausdruck - Sprache ist ja verräterisch - wir müssten unsere
Kinder "fit machen" für
den Arbeitsmarkt. Ein entsetzliches Wort, finde ich, weil es doch zurichten,
abrichten, herrichten
für etwas assoziiert. Diese Sprache und die dahinterliegende Denkweise
liegen in einem Trend, bei
denen ökonomische Gesichtspunkte mehr und mehr soziale und ethische
Gesichtspunkte verdrängt
haben. In diesem Trend liegt es übrigens auch, Zuwanderer in
"nützliche" und "unnütze"
einzuteilen.
Ich wiederhole mich: In den Köpfen muss mehr sein, als die Fähigkeit, sich
im Konkurrenzkampf
durchzusetzen. Auch in der Schule sollte es Zeiten und Orte geben, die Fragen
der Orientierung
und der Werteerziehung vorbehalten sind.
Das Diskutieren und Nachdenken über
ethische Fragen
braucht mehr Zeit, als in den Lehrplänen der meisten Fächer vorgesehen ist.
Deshalb plädiere ich
nach wie vor für einen Wahlpflichtbereich Religion/Philosophie/Ethik. Der
Berliner Fall sagt
meiner Ansicht nach viel darüber aus, welchen Stellenwert die Werteerziehung
in unserer heutigen
Gesellschaft hat. Ich kann es noch naiver sagen: Kann unsere Gesellschaft es
sich wirklich leisten,
dass Mathematik, Englisch, Informatik obligatorisch sind, nicht aber ein
Fach, in dem es
ausdrücklich um Orientierungswissen geht? Ich glaube nicht. Eine einseitige
Ausrichtung auf den
Arbeitsmarkt und die Vernachlässigung der anderen Dimension von Bildung und
Erziehung halte
ich für eine Engführung, die letztlich den demokratischen Wertekonsens
gefährdet.
Dass immer
mehr junge Menschen auf skrupellose politische Rattenfänger hereinfallen,
lässt jedenfalls daran
zweifeln, dass ihnen Lebenssinn, Orientierung und demokratische Werte
überzeugend vermittelt
worden sind. Ich fürchte, wir haben uns zu lange in der Sicherheit gewähnt,
der Wert von Freiheit
und Gerechtigkeit, Toleranz und Solidarität würde sich nach 50 Jahren
Demokratie in der
Bundesrepublik (jedenfalls im westlichen Teil) gewissermaßen von selbst und
umfassend an die
nächste Generation vermitteln. Ich wiederhole mich: Wenn es auch in Zukunft
demokratisch
zugehen soll, brauchen wir Erziehung zur verantwortlichen Freiheit. Junge
Menschen müssen
lernen, Gleichheit von Ungleichheit, Recht von Unrecht, Freiheit von
Beliebigkeit zu
unterscheiden. Selbstverständlich stehen Staat und Politik zuerst in der
Pflicht, den Sinn und Wert
demokratischer Prinzipien zu erläutern, zu begründen, zu vermitteln und
dafür immer neu zu
werben. Aber dazu werden auch Familie und Schule gebraucht. Die dritte
Gruppe, die
Kirchengemeinde, spielt ja keine so große Rolle mehr.
Die letzte Shell-Jugendstudie - Sie kennen sie alle - ist zu einem
unausgesprochen entmutigenden
Ergebnis gekommen, über das ich mich sehr geärgert habe. Erziehung durch
gesellschaftlich
gewünschte Sozialisationsinstanzen verfange einfach nicht mehr, so behaupten
die Autoren. Daher
sei es auch Unfug, von Wertevermittlung oder Sinnstiftung zu reden und in
politischen
Diskussionen den Mut zur Erziehung zu fordern. Wenn sie auch eine allgemeine
Stimmung
wiedergeben mir klingt das, was die Shell-Autoren an dieser Stelle über
Erziehung sagen, viel zu
sehr nach Resignation, nach voreiliger und verantwortungsloser und falscher
Resignation. Der
Zulauf zu Sekten oder zu rechtsextremen Gruppen ist für mich jedenfalls ein
alarmierendes Zeichen
dafür, dass junge Menschen heute mehr denn je Orientierung und Sinn und
Beheimatung suchen.
Um so wichtiger ist, dass die demokratisch verankerten Institutionen nicht
resignieren, sondern den
Mut und die Kraft zur Werteerziehung aufbringen.
Gerade eine kulturell
vielfältige Gesellschaft
muss ein vitales Interesse daran haben zu klären: Welche gemeinsamen Werte
teilen wir über
kulturelle Grenzen hinweg? Auf welche Werte müssen wir uns verständigen, um
Konsens im
gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht zu gefährden? Das Zusammenleben von
Menschen
verschiedener Herkunft kann niemals konfliktfrei verlaufen, das sollte man
nicht erwarten. Darauf
hat Wilhelm Heitmeyer schon vor Jahren hingewiesen. Statt kulturbedingte
Konflikte zu leugnen,
zu verdrängen oder zu unterdrücken, muss interkulturelle Erziehung die
Bereitschaft und die
Fähigkeit ausbilden, Spannungen auszuhalten und Konflikte friedlich zu
lösen.
Wie gut Integration und Zusammenleben gelingen, das hängt davon ab, wie wir
mit Differenzen
und Missverständnissen, mit Unsicherheiten und Befremdung umgehen. Fehlt es
schlicht und
einfach an der offenen und angstfreien Haltung, derer die interkulturelle
Verständigung bedarf?
Aber das will ich ausdrücklich betonen die Verständigung
untereinander braucht auch die
Rückbindung an das, was man als das jeweils Eigene erkannt hat.
Der
Pluralismus der Kulturen,
der Weltanschauungen, der Religionen ist kein Wert an sich. Er würde
letztlich in Beliebigkeit, in
Gleichgültigkeit enden. Interkulturelle Erziehung sollte deshalb nicht nur
darauf zielen, dass junge
Menschen fremde Überzeugungen verstehen, sondern auch darauf, dass junge
Menschen eigene
Auffassungen entwickeln und vertreten können. Die Stärkung des Individuums,
seiner
Selbstverantwortung und Urteilskraft ist eine der wichtigsten Aufgaben von
Erziehung in einer
entgrenzten, multi-ethnisch geprägten Gesellschaft. Der Einzelne muss heute
mehr denn je lernen,
mit seinen Ängsten umzugehen mit Ängsten von einer zunehmend ungewiss
erscheinenden
Zukunft, mit Ängsten von neuen Herausforderungen und Überforderungen, mit
Ängsten vor
Fremden, Anderen, Unbekannten.
Ich weiß, dass mit beinahe ritueller Regelmäßigkeit den Schulen
vorgeworfen wird, dass sie ihre
Aufgaben nicht oder nur unvollständig erfüllen. Da wird gefordert, dass
Schule mehr Basiswissen
vermittelt etwa im Zuge der TIMMS-Studie und besser aufs Berufleben
vorbereitet, dass Schule
Medienkompetenz und soziale Kompetenz vermittelt dass sie politische
Bildung und
Werteerziehung leistet, dass sie Fremdsprachen und interkulturelle Bildung
einübt. Wie soll das
alles in den Lehrplänen untergebracht werden? Was ich mir wünsche, wage ich
nur halblaut zu
sagen: dass Sie mit an der Spitze derer marschieren, die unsere Lehrpläne
aufräumen.
Wenn es
denn stimmt - und das sagen wir doch alle -, dass wir künftig
lebenslänglich lernen müssen, dass
man nicht einen Beruf erlernt für sein ganzes Leben, sondern mehrere, dass
sich das berufliche
Wissen viel schneller verändert und schneller veraltet: Könnte man daraus
nicht die Konsequenz
ziehen, dass ein beträchtlicher Teil des Wissens, das wir bisher in der
Schule vermitteln, in den
Bereich der beruflichen Bildung gehört? Diesen Teil könnten wir in der
beruflichen Ausbildung
erlernen, wieder vergessen, wieder etwas neues lernen. In der Schule aber
sollten die elementaren
Fähigkeiten, Qualifikationen, Verhaltensweisen zum Gegenstand von Bildung
und Erziehung
werden.
Lassen Sie uns also neu darüber streiten, wie wir Kinder auch über
kulturelle Grenzen hinweg
zu mündigen Bürgern bilden können: selbstverantwortlich und solidarisch,
tolerant und
konfliktfähig, in der eigenen kulturellen Identität verwurzelt und offen
für andere. Das ist für mich
das Bildungs- und Erziehungsideal einer pluralen, demokratischen
Gesellschaft. Und dafür arbeiten
doch Sie vor allem. Wer sonst?
Herzlichen Dank fürs Zuhören.

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