Lechaim - auf das Leben!
von Inge Santner, Februar 1998ursprüngliche adresse:
http://www.wienerjournal.at
Nach Holocaust und Exodus: Das osteuropäische Judentum
beginnt wieder an die Zukunft zu glauben.
Nichts gegen Mathematik oder Rechtschreibung, konzediert Helise
Liebermann, die Leiterin der jüdischen Schule in Warschau. Vor allem jedoch
wolle sie ihren Kids vermitteln, daß »es Spaß macht, Jude zu sein«. Tag für
Tag sollten die Kinder »ein neues Lebensgefühl nach Hause tragen«. Die
Lehrer vice versa sollten von den Kindern lernen.
Noch vor zehn Jahren schienen die KP-Staaten Mittelosteuropas - Polen,
Ungarn, Bulgarien, Rumänien, die Tschechoslowakei und Jugoslawien - ein
einziger jüdischer Totenacker zu sein. Auf den Überlebenden der ehemals fünf
Millionen Juden lag ein Leichentuch aus Angst, Apathie und gefrorener
Trauer. »Man fragte mich oft, wann wir wohl den letzten polnischen Juden
beerdigen müßten«, erinnert sich Rabbi Michael Schudrich, ein 42jähriger
Amerikaner, der Osteuropa seit 1973 oft bereist hat und seit 1990 in
Warschau lebt.
Neubeginn durch Lauder-Stiftung
Heute regt sich aber wieder Leben im Kerngebiet des europäischen Judentums.
Synagogen sperren auf, jüdische Kindergärten und Schulen entstehen,
Zeitschriften, religiöse Bücher, koschere Restaurants, Jugendclubs und
Sommerlager verbreiten Aufbruchstimmung. Die Rede ist nicht mehr von
»letzten Überresten«, sondern von »Neubeginn«. Nach Verfolgung, Exodus,
Holocaust und vierzig Jahren Kommunismus entdecken die verloren geglaubten
Generationen ihre Wurzeln, bekennen sich wieder, unsicher und zögernd
freilich, zur eigenen Kultur.
Wesentlichen Anteil an dieser Entdeckung hat der amerikanische Geschäftsmann
Ronald S. Lauder, jüngerer Sohn der Kosmetik-Magnatin Estée Lauder. Seine
1987 gegründete Stiftung setzte ein beachtliches Netzwerk von jüdischen
Erziehungseinrichtungen auf die ausgedorrte Geistesbühne Osteuropas.
Zusätzliche Unterstützung für die wiederentstehenden jüdischen Gemeinden
verspricht ein kürzlich von Lauder und der großen US-Bürgerrechtsbewegung
Anti-Defamation League gemeinsam geschaffenes Europabüro in Wien. »Wir
verstehen uns als Anlaufstelle in Fragen der Aufbauarbeit«, sagt dessen
Leiterin Marta S. Halpert, die aus Ungarn stammt. Hauptzweck des neuen Büros
sei es, »ohne Arroganz und westliche Besserwisserei« mit Rat und Tat zur
Verfügung zu stehen, maßgeschneiderte Hilfe anzubieten, jeglichen Rassismus
zu bekämpfen und »natürlich auch zu reagieren, wenn etwas passiert«; anders
ausgedrückt: wenn als Antwort auf das neue jüdische Selbstvertrauen ein
neuer Antisemitismus entsteht.
Kollektiver Identitätsverlust
Das leidenschaftliche Engagement des jetzt 53jährigen Ronald S. Lauder für
die Sache der Judenheit überraschte sogar engste Freunde. Nie zuvor hatte
der »total assimilierte New Yorker« - so Lauder über sich selbst - mit der
Religion seiner Ahnen viel am Hut gehabt. »Daheim in den USA war ich ein
Drei-Tage-Jude«, erzählt er freimütig. Nur zu den ganz hohen Feiertagen
trieb es ihn in die Synagoge.
Zum Ganz-Jahres-Juden wurde Lauder ab 1986 während seiner kurzen Dienstzeit
als amerikanischer Botschafter in Wien. Erstmals reiste er hinter den
Eisernen Vorhang, erstmals beschäftigte er sich mit der Herkunft seiner
Großeltern aus dem slowakisch-ungarischen Raum.
Als Schlüsselerlebnis bezeichnet er seine Besuche in der Warschauer
Nozyk-Synagoge und im Budapester Dohány-Tempel, dem größten Europas mit
Platz für 5000 Menschen. Statt des erwarteten Massenandrangs von Gläubigen
traf er lediglich kleine Grüppchen vorwiegend alter Leute. Lauder
rückblickend: »Ich konnte es nicht fassen. Sollte das wirklich alles sein,
was von den einst blühenden jüdischen Gemeinden in Osteuropa übriggeblieben
war?«
Der offenkundig kollektive Verlust an Identität ließ ihn nicht mehr zur Ruhe
kommen. Er meinte zu erkennen, »daß es paradoxerweise die Juden selbst sind,
die Hitler nachträglich zum Sieg verhelfen, indem sie ihre Tradition
aufgeben«. Folglich beschloß er, »wider die große Gleichgültigkeit mobil zu
machen«. Nach New York heimgekehrt, gründete er die Ronald S. Lauder
Foundation, die das Ziel hat, »jüdische Gemeinden in Osteuropa zu
unterstützen und zu revitalisieren«.
»Die Furcht ist weg«
Und tatsächlich: Was zunächst wie eine hoffnungslose Mission anmutete,
geriet schnell zu einer Erfolgsstory. Vor allem wegen des goldrichtigen
Zeitpunkts. Die eben anbrechende Endphase des Kommunismus ließ die jüdischen
Mitbürger freier atmen. Eine gestern noch diskriminierte und sich selbst
verleugnende Minderheit, die wiederholt Opfer antisemitischer Kampagnen
geworden war, konnte sich endlich relativ gefahrlos zu ihrer Gemeinschaft
bekennen. Rabbi Schudrich fand dafür ein drastisches Bild: »Die Furcht ist
weg. Die Juden kommen aus dem Schrank«.
Lauders Zehn-Jahres-Bilanz liest sich durchaus beeindruckend. Wohlverteilt
zwischen Baltikum und dem Schwarzen Meer unterhält seine Stiftung ein
Halbdutzend Kindergärten, sieben Schulen, drei internationale Feriencamps
und eine Menge Jugendzentren. Ihr bisher aufwendigstes Projekt, das
Budapester Lauder-Javne-Schulzentrum mit 24 Klassenzimmer und 100 Lehrern
für 600 Schüler und Schülerinnen, reüssiert seit 1996. Zur Eröffnung kam
auch Ungarns Staatspräsident Arpad Göncz. »Holt mich wieder, sobald aus
Eurer Anstalt der erste Nobelpreisträger hervorgegangen ist«, scherzte er
zum Abschied.
Keine Frage also, die Wiederbelebung des Ostjudentums geht
voran. Trotzdem bleibt zumindest innerjüdisch umstritten, ob sie überhaupt
erstrebenswert ist.
Vorsichtiger Optimismus
Allenthalben, so scheint es, weicht die Friedhofsruhe einem vorsichtigen
Optimismus. »Wir erleben einen Durchbruch«, strahlt Fero Alexander,
hauptberuflich Mathematikprofessor an der Technischen Hochschule Bratislava
und nebenbei Vorsitzender der Union jüdischer Gemeinden in der Slowakei.
»Wir beginnen über die Zukunft zu reden, wir reden nicht mehr ausschließlich
über die Vergangenheit.«
Problemlos oder gar idyllisch geht das jüdische Revival allerdings nicht
vonstatten. Sein Ausgang ist vorerst ungewiß. Derselbe Fero Alexander, der
den »Durchbruch« bejubelt, formuliert im selben Atemzug, daß er nicht zu
prophezeien wage, »wie es mit den zirka 3000 slowakischen Juden weitergehen
wird«. Als Beispiel nennt er seine beiden erwachsenen Söhne, »die zwei
lernen jetzt Hebräisch, Englisch und Französisch - vielleicht denken sie an
eine Zukunft anderswo.«
Im Jahr Acht nach der Wende präsentiert sich die ehemals klar profilierte
Welt des osteuropäischen Judentums noch immer als ziemlich diffuse terra
incognita. Präzise statistische Erhebungen fehlen. Verbürgt dürfte lediglich
sein, daß 1945 am Ende des Hitlerschen Wahnsinns von den ursprünglich fünf
Millionen Juden (ohne UdSSR) nur noch rund 730.000 an Ort und Stelle lebten.
Wieviele es anno 1997 sind, nach teils freiwilligen, teils erzwungenen
Auswanderungswellen, weiß offenkundig niemand.
Wirklich nur 155.000, wie immer wieder zu lesen ist? Oder doch wesentlich
mehr? Die privaten bis halboffiziellen Schätzungen aus den genannten sechs
Staaten widersprechen einander, differieren oft ums Fünffache, so etwa in
Polen: Jüdische Organisationen sprechen von 7000 bis 8000 polnischen Juden -
soviele nämlich stehen in den Mitgliederlisten. Anderen Angaben zufolge
bekunden rund 15.000 Bürger Polens »ein aktives Interesse an der Festigung
ihrer jüdischen Zugehörigkeit«. Aus wieder anderen Quellen verlautet, daß
gar 40.000 Polen jüdische Vorfahren besitzen, oft ohne darüber zu reden, ja
ohne es zu wissen. »Jude zu sein wurde hierzulande oft als hinderliche
Hypothek empfunden«, gibt der Warschauer Lehrer Pjotr Kowalik zu bedenken.
Er selbst habe erst am Sterbebett seiner Mutter die Wahrheit erfahren.
Undogmatische Erziehung
Auch Ronald S. Lauder befürchtet, daß »die Angst der Alten nur schwer
auflösbar« sei. Deshalb setzt er seine Hoffnungen vorrangig auf die weniger
belastete Jugend. Ihr versucht er das Abenteuer der jüdischen
Spurensicherung zu vermitteln, die Freude an jüdischer Spiritualität
einzuimpfen.
Als Kaderschmieden der Orthodoxie möchte er seine Schulen gleichwohl nicht
verstanden wissen. Sein Lehrpersonal vermeidet jeglichen Fundamentalismus.
Es kommt ihm allein darauf an, die meist religionsfrei erzogenen
Jugendlichen auf undogmatische Weise mit jüdischer Überlieferung bekannt zu
machen. Religionsunterricht ist obligatorisch, die Teilnahme am Gottesdienst
hingegen nicht. Eingeschliffene Tabus werden sorgsam respektiert, wie Helise
Liebermann glaubwürdig versichert. »Wir fragen die Eltern unserer Kinder
niemals, warum sie ihren Sohn, ihre Tochter zu uns schicken«, sagt sie,
»mehr noch: wir fragen sie nicht einmal, ob sie Juden sind«.
Ungarn: Zentrum der Renaissance
Die stärksten Impulse zur Renaissance des kerneuropäischen Judentums gehen
zweifellos von Ungarn aus, und zwar aus mehrfachen Gründen. Das Magyarenland
registriert mit 110.000 die weitaus größte Personenzahl jüdischer Herkunft,
es hat sich als erster Reformstaat um die Wiederaufnahme diplomatischer
Beziehungen mit Israel bemüht und es beherbergt das einzige Rabbinerseminar
Osteuropas.
Dank ihrer zwanzig zum Gutteil fein herausgeputzten Synagogen ist Ungarns
Metropole inzwischen eine Art Pilgerstätte für die aufbruchswilligen
Kleingemeinden der Nachbarstaaten geworden. In Budapest dürfen die
Anreisenden frischen Mut tanken. Hier treffen sie auf eine reanimierte
Religionsgemeinschaft und diskutieren mit quicklebendigen urbanistischen
Intellektuellen, die sich gleichzeitig als Träger des Juden- und des
Magyarentums fühlen, »weil der Mensch auch zwei Anhänglichkeiten pflegen
kann«, wie es Rabbi Tamás Raj ausdrückt. Und sie bummeln genüßlich durch die
sogenannte Elisabethstadt, wo die jüdischen Wurzeln aus Gestern und Heute
geradezu augenfällig zusammenwachsen. Im Kellergewölbe des Gabór Klein am
Klauzál tér stehen Spirituosen aus Israel. In der Dob utca 35 werkt eine
koschere Metzgerei. Im Restaurant Fészek findet sich ein echtes Scholet auf
der Speisekarte.
Keine Frage also, die Wiederbelebung des Ostjudentums geht voran. Trotzdem
bleibt zumindest innerjüdisch umstritten, ob sie überhaupt erstrebenswert
ist.
Überhaupt erstrebenswert?
Das zionistische Establishment beurteilt Lauders Intervention eher
zurückhaltend, um nicht zu sagen ablehnend. Es kritisiert halbe Maßnahmen,
die zwangsläufig nur halbe Erfolge bringen. Ein bißchen jüdische Identität
erscheint ihm zu wenig, ganz oder gar nichts lautet die Parole. Osteuropa
sei nach 40jähriger kommunistisch forcierter Eintopfpolitik ein- für allemal
verloren. Die assimilierten und nicht mehr verpflanzbaren Alten hätten
Anspruch auf humanitäre Hilfe. Die Jungen, sofern ansprechbar, gehörten
»heim nach Israel«. Denn Bibel und Kulturen seien unmöglich zu trennen.
Das Prinzip Realität
Ronald S. Lauder hingegen vertritt das Prinzip Realität. Er denkt an all
jene, die schweren Drangsalierungen zum Trotz in Osteuropa ausgeharrt haben
und auch weiterhin ausharren möchten. Diese Minderheit, wie schwächlich sie
auch immer sein möge, will er davor bewahren, im Majoritätsvolk komplett
unterzugehen und spurlos zu verschwinden, »als hätte sie nie gelebt«. |