Lernen - was ist das eigentlich ? Heißt
Lernen - daß man weiß, wie Schuhe anzuziehen sind, - daß man Skateboard
fahren kann, daß man Vokabeln beherrscht ? Lernen, jeder tut es von
Kindheit an und jeder scheint froh, wenn die Zeit des Lernens vorüber ist...
Eine Zeit, in der wir uns absichtlich und zumeist unter mehr oder weniger
großen Anstrengungen irgendwelche Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse
aneignen...
Wenn nun diese Zeit des
Lernens niemals endet und gar zur Lebensgrundlage wird ? Also Lernen nicht nur
als vorübergehendes Element des persönlichen und beruflichen Lebensvollzuges
sondern darüber hinaus auch als Existenzform ? Mit Blick auf bestimmte
Lebenswelten in Vergangenheit und Gegenwart gibt es eine Tradition, die dieser
Überlegung in bemerkenwerter Weise Rechnung trägt und schließlich die Frage
aufwirft, ob diese Tradition nicht zugleich als Modell für modernes
lebenslanges Lernen dienen kann.
Lernen als Existenzform:
Das Lernen lernen
Dr.
Barbara Breidenbach (1/4)
Es ist das Judentum, das
wie kein anderes Volk Möglichkeiten für eine lebenslange Lernmotivation und
-fähigkeit eröffnet hat, wobei die jüdische Kultur bislang als die einzige
gilt, in der zudem das Ideal des lebenslangen, autonomen Lernens in großem
Umfang zur Wirklichkeit wurde. Die jahrtausendalte spezifische Lernkultur der
Juden besitzt eine bemerkenswerte Vorrangstellung, da sie über ein vielseitig
einsetzbares und erprobtes Instrumentarium zur Problemlösung und
Bewußtseinsbildung verfügt. D.h. jüdisches Lernen - ob im engeren
traditionellen oder im weiteren modernen säkularen Sinne findet überall dort
statt, wo es um Auseinandersetzung und Zugehörigkeit zum Judentum geht.
Grundsätzlich darf davon
ausgegangen werden, daß das Lernen für den traditionell lebenden Juden
keinerlei Rechtfertigung bedarf: Schließlich bezeugen Tora und Talmud eine
Mizwa, ein göttliches Gebot: "[...] einschärfe sie deinen Söhnen, rede
davon, wann du sitzest in deinem Haus und wann du gehst auf den Weg, wann du
dich legst und wann du dich erhebst." (5. Mose 6,7; "[...] laß das
Buch dieses Gesetzes nicht von deinem Munde kommen, sondern betrachte es Tag und
Nacht, daß du hältst und tust in allen Dingen nach dem, was darin geschrieben
steht" (Josua 1,8) (zit. nach Buber/Rosenzweig 1930).
In der jüdischen
Tradition bedeutet Lernen für den Einzelnen nicht etwa eine zeitweilige
Beschäftigung, die vom übrigen Leben losgelöst ist, sondern einen quasi
"Tag und Nacht währenden Prozeß". Unter Mobilisierung aller
personalen und nicht-personalen Quellen bedarf es der aktiven Hinwendung zu den
Lerninhalten als Hauptdaseinszweck: "Beschränke dein Gewerbe, und widme
dich dem Studium der Tora" (Sprüche der Väter 4,12).
Samson Raphael
Hirsch,
der Begründer der Neuorthodoxie, hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen,
daß es unter den Juden nur wenig "künstliche Veranstaltungen"
gegeben habe. Er forderte, man solle nicht Anstalten gründen, sondern das
Lernen lernen.
Das didaktische
Arrangement außerhalb der jüdischen Tradition ist im wesentlichen durch das
Lehrer-Schüler-Verhältnis bestimmt. Bücher, wie auch nicht-personale Medien
treten nur bei Bedarf hinzu. Hingegen heißt jüdisches Lernen vorzugsweise
"Buchlernen", es ist also durch das Schüler-Buch-Verhältnis
bestimmt, und der Lehrer tritt - als Kommentator, Helfer, Tutor - nach Bedarf
hinzu. Mit Buch ist Sefer ha sforim, das Buch der Bücher gemeint, wobei der Talmud und die rabbinischen Schriften
miteinbezogen sind,
während die säkulare Bedeutung vom Buch als Träger aller denkbaren sakralen
und profanen Informationen ausgeht.
Jüdisches Lernen kann
folglich dem Kern nach als "Autodidaxie" betrachtet werden, denn es
wird nur zeitweise durch andere Lernende oder Lehrende unterbrochen. Diese
"Präsenzphasen" sind vorrangig von Dialog und Diskurs geprägt:
"Wenn du lehrst,
lernst du, [...] die Tora kann man nur gemeinsam studieren", sagen
jüdische Spruchweisheiten. Die Autorität des More (des Lehrers)
bleibt zum einen unbestritten, zum anderen vollzieht sich das
Lehrer-Schüler-Verhältnis der jüdischen Tradition nicht in hierarchischer
Abhängigkeit, sondern ist in einem wechselseitigen, gemeinsamen Lernprozeß
begründet.
Ursprünglich verfügte
jede jüdische Gemeinde über ein "Lehrhaus" - oft nur ein Zimmer, das
vom Betsaal getrennt war, häufig identisch mit der Jeschiwa (weiterführende
Lernstätte, zu der jeder Jude in unbegrenztem Zeitraum Zugang hatte) -, in dem
sich die erwachsenen Männer zum "Lernen" trafen. Hierbei wechselten
individuelles Lesen und Diskussionen ab; die vorherrschende Kommunikationsform
war eine egalitäre, bei der jeder die Chance hatte, zu Worte zu kommen und
keine - auch keine rabbinische - Autorität dominierte!
Obgleich die diskursive
Auseinandersetzung im traditionellen jüdischen Lernen als lern- und
denkförderlich gilt, richtet sich die Aufgabe primär an den Einzelnen und
bedarf nicht grundsätzlich des sozialen Bezugs einer Chederklasse (trad.
jüdische Elementareinrichtung) oder einer Jeschiwa.
Das Lernen selbst
bedeutet keineswegs ein klassen- oder schichtenspezifisches Privileg Einzelner,
sondern ist traditionsgemäß die Sache aller - zumindest aller Männer.
Zudem beschränkt es sich keineswegs nur auf Kindheit und Jugend, es erstreckt
sich über das ganze Leben. Niemand wird als zu alt erachtet, um seinen
religiösen Lernpflichten nachzukommen, denn es heißt: "Wer die Tora
lernt, dem kann der Todesengel nichts anhaben."
[Lernen als Existenzform]
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