Der allerhöchste
Wert:
Lernen um des
Lernens willen!
Dr.
Barbara Breidenbach (3/4)
Trotz Verweltlichung
großer Bereiche jüdischen Lebens ist dennoch die hohe Wertschätzung des
Lernens erhalten geblieben. Das heißt, daß das Prinzip des Lernens um des
Lernens willen seine Erfüllung nicht so sehr in dem findet, wie viel man weiß,
sondern vielmehr darin, wie intensiv man studiert.
Bedingt durch die
Emanzipation im Gefolge der Haskala wurde dieses Prinzip mehr und mehr auf
weltliche Inhalte übertragen, die sich wesentlich an den Berufszielen des
städtischen Bürgertums des 19. und 20. Jhds. orientierten. Ein Blick in die
jüdisch-deutsche Sozialgeschichte zeigt folgendes Bild:
Zunehmend legten
jüdische Familien Wert auf "höhere Bildung". Selbst Juden auf dem
Land taten alles, um vor allem ihren Söhnen das Lernen an weiterbildenden
Schulen und Universitäten zu ermöglichen. 1906 machten z.B. die jüdischen
Schüler bereits ein Viertel der Schülerschaft an den humanistischen Gymnasien
Berlins aus und 1914 waren in ganz Preußen die jüdischen Schüler etwa sechs
mal so stark an höheren Lehranstalten vertreten, als es ihrem
Bevölkerungsanteil entsprach.
In gleichem Maße wie das
säkuläre Lernen an Bedeutung gewann, erlebte das jüdische Leben in
Deutschland bis zu den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts einen
wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung. Akkulturation und Assimilation
schritten nicht nur weiter fort, sondern begünstigten auch die Liberalisierung
und Aufweichung der jüdischen Tradtition.
Die Hochschätzung des
Lernens läßt sich nicht nur mit Blick auf die Vergangenheit, sondern auch bis
in die Gegenwart und zwar auf internationaler Ebene feststellen: Exemplarisch
sind hier die USA zu nennen, in denen heute der größte Teil des Judentums
lebt. Im Vordergrund steht die Auffassung, daß die amerikanischen Juden den
landestypischen "way of life" neben den WASP (white Anglo-Saxon
protestant) am besten repräsentieren. Genauer: Mit bemerkenswerter
Regelmäßigkeit vertraten die Juden und die weißen Protestanten die
individualistische, wettbewerbsbetonte Denk- und Handlungsweise der
Mittelklasse.
Die jüdisch-säkulare
Erziehung richtete sich nicht gegen Religion und Tradition, allerdings hat sie
anstelle des religiös Gebildeten den Träger akademischer Berufe idealisiert:
Der arme Talmudstudent - in der Tradition der ideale Schwiegersohn für einen
wohlhabenden Geschäftsmann - wurde allmählich von dem jungen Arzt oder dem
Anwalt verdrängt.
Ähnlich wie in den USA
gelten bis in die Gegenwart weltweit "law and learning" als
Zentralbegriffe des jüdischen Selbstverständnisses. Daraus resultiert wiederum
eine "skeptische Denktradition", die ausgehend von Tora und Derech
erez (etwa: Landessitte) die hohe Wertschätzung des Lernens begünstigt.
Die Zielvorstellung der
jüdischen Tradtion, alle männlichen Juden zu Gesetzesgelehrten zu machen, hat
sich, obwohl nie voll erreicht, als "kulturgeschichtlich ungemein
fruchtbar" erwiesen und verdeutlicht gleichwohl die beispielslose
Hochschätzung des Lernens und des Wissens. Jüdisches Selbstverständnis und
somit die jüdische Existenzform war von je her im wesentlichen von der
Bereitschaft und der Fähigkeit zu lernen abhängig.
Eingebunden
in das Netz sozialer Beziehungen der Tradition - in der Familie und in den
religiösen Lernstätten gaben diese dem Lernenden, zugleich dauerhaft und
verläßlich, das Gefühl der Zugehörigkeit und der Teilhabe.
Eine Arbeit von Dr.
Barbara Breidenbach
Lernen als Existenzform
Onlineversion
2000
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