Überleben und
Widerstand:
Lernen als Gegenwelt
Dr.
Barbara Breidenbach (4/4)
Die Transformation des
traditionellen, judeozentrischen Lernens durch Aufklärung, Emanzipation und
Assimilation scheint nicht nur den existentiellen Bezugsrahmen
sondern auch den der Identitätsentwicklung tiefgreifend zerstört zu haben.
Begründungen hierfür sind im historischen Kontext zu suchen:
Jüdisches Bewußtsein
bis 1933 in Deutschland Bestandteil einer vielfältigen soziokulturellen
Identität, geriet durch die NS-Herrschaft zur Identitätsdiffusion.
Insbesondere für jüdische Schulkinder und Jugendliche wurde die
Identitätentwicklung zu einem Problem. Die damals "hautnah
erfahrenen" Ablehnungen, Herabsetzungen, Aggressionen seitens
nichtjüdischer Lehrer, Schul- und Spielkameraden sowie feindseliger Erwachsener
etc., wirkten sich zwangläufig destruktiv aus und äußerten sich in einer
"Zersplitterung des Selbstbildes", einem "Verlust der Mitte"
und in einem "Gefühl der Verwirrung".
Dem suchten Eltern und
Lehrer entgegenzutreten und unternahmen alle Anstrengungen, den Heranwachsenden
die Entwicklung einer positiven, stabilen Identität zu möglichen. Trotz
vielfältiger Ausgrenzungen und Anfeindungen gelang ihnen der Aufbau einer von
den Schülern intellektuell und emotional akzeptierten kulturellen und sozialen
Gegenwelt zur nationalsozialistisch geprägten Kultur und Gesellschaft. Diese
Gegenwelt führte zur Rückbesinnung auf jüdische Lerninhalte und zum
Wiederaufleben der jüdischen Schule. Einst als konservativ-rückschrittlich
verworfen, erlebte sie nun eine unvorstellbare Aufwertung, indem sie nicht nur
eine selbstverständliche jüdische Atmosphäre vermittelte, sondern den
bedrängten jüdischen Kindern und Jugendlichen auch Geborgenheit gab.
Die zentralen Elemente
des Judentums: Judentumskunde, Hebräisch, jüdische Geschichte sowie Feste und
Gedenktage bildeten das Kernstück auf dem Weg zur Formung des neuen jüdischen
Bewußtseins als pädagogisch-didaktisches Postulat zur jüdischen Durchdringung
des Unterrichts. Als Tenor galt: "Die Schule soll von einem sich selbst
begreifenden jüdischen Geist durchdrungen sein. Das heranwachsende Kind soll
sich seines Judeseins in gesundem Bewußtsein sicher werden. Zur Erreichung
dieses Ziels ist das Jüdische in den Mittelpunkt aller dafür in Betracht
kommenden Unterrichtsfächer zu stellen."
Der innere Prozeß zur
Herausbildung einer stabilen jüdischen Identität, obgleich für assimilierte
Juden schwer oder gar unmöglich, begleitete den Weg zurück zum Judentum und
sicherte zugleich dessen Existenz.
Das "katastrophische
Ende jüdischen Lebens" in Deutschland, das gleichermaßen das Ende
jüdischen Lernens und jüdischer Erziehung bedeutete, offenbart die Bruchlinien
jüdischer Existenz, die die deutsche Geschichte durchziehen. Dieses Ende der
"deutsch-jüdischen Symbiose" - Worte Martin Bubers von 1937 -
kennzeichnet den Bruch mit der gemeinsamen Geschichte. Alle Chancen diese
Bruchstellen und Risse zu heilen schienen - zumindest unmittelbar nach der Schoah
- vergebens.
Die Annahme, Deutschland
sei mit Blick auf die Judenheit für alle zukünftigen Generationen und Zeiten
ein tabuisiertes Land, hat sich nicht bewahrheitet. Heute,
fünfzig Jahre nach dem Wiederaufleben jüdischer
Gemeinden gibt es neue Ansätze jüdischen Lebens und jüdischen Lernens.
Im Blickpunkt stehen in diesem Zusammenhang die in den letzten Jahrzehnten
gegründeten jüdischen Elementarschulen in Frankfurt, München, Berlin und
Düsseldorf, wobei Berlin seit 1991 auch über eine sog. Oberschule mit
Realschul- und Gymnasialzweig verfügt.
Ungeachtet ihrer
marginalen Stellung innerhalb der deutschen "Schullandschaft" kann die
jüdische Gemeindeschule auf ihre Schlüsselrolle verweisen, wenn es darum geht,
die Bedeutsamkeit jüdischen Lernens in der Gegenwart herauszustellen.
Auf der Basis einer
nahezu 200 Jahre währenden jüdischen Schultradition ist das Interesse heutiger
jüdischer Schulen erneut auf eine schulische Lebenswelt mit einer spezifischen
jüdischen Atmosphäre gerichtet, die das Jüdische in den Mittelpunkt stellt.
Die jüdische Schule der Gegenwart beabsichtigt jedoch nicht den Aufbau einer
Gegenwelt, sondern sucht moderne Bildungsziele mit der jüdischen Tradition zu
verbinden. Ihr Schwerpunkt ist allerdings die Rückbesinnung, d,h. das Lernen
jüdischer Inhalte, Werte und Normen. Mit Hilfe der zentralen Elemente des
Judentums: Religions- und Torahkunde, Hebräisch, jüdische Geschichte
einschließlich der Feste, Feier- und Gedenktage will sie gleichermaßen
normativen Zaun und Schutz mit verläßlichen Bindungen und Orientierungen
bieten, letztendlich aber auch existenzsichernden Schonraum innerhalb einer
nichtjüdischen Gesellschaft.
Eine Arbeit von Dr.
Barbara Breidenbach
Lernen als Existenzform
Onlineversion
2000 (I. bis IV.Teil)
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