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"Privilegien, Verfolgung, Vertreibung ...":
Der Anti-Antisemitismus und die Macht der Vorurteile – Erfahrungen eines Lehrers

Von Wolfgang Geiger
Kommune, Forum für Politik-Ökonomie-Kultur 5/2004

Antisemitische Vorurteile bei Schülern: Sind die Lehrer zu mangelhaft für ihre Aufgabe gerüstet? Übertragen sie nur ihre eigenen Antipathien gegen Juden? Unser Autor zieht sein Fazit aus jahrzehntelanger Erfahrung: Es existiert ein entscheidendes Defizit bei den Fakten; deutsch-jüdische Geschichte wird einseitig und verzerrend behandelnd, zu sehr konzentrieren sich die Lehrbücher auf Verfolgungsgeschichte und Holocaust, zu sehr erscheinen Juden als Objekte und Opfer deutscher Geschichte, zu wenig als Träger einer eigenen Kultur und als Mitgestalter der modernen Welt.

"Es hat in der neueren deutschen Geschichte eine Zeit gegeben, in der viele gern gesehen hätten, wenn Jesus ein Sachse gewesen wäre."
Einleitung des Kapitels "Juden im christlichen Abendland" , Rückspiegel Bd. 2, 1995 (Geschichtslehrwerk für die 8. Klasse)

Schulunterricht als antirassistische "Schutzimpfung"

Als sich 1960 eine vom Verband Deutscher Studentenschaften organisierte Tagung erstmalig mit der "Darstellung des Judentums in der Lehrerbildung und im Schulunterricht" befasste, berief sich Ekkehard Krippendorff einleitend auf Theodor Adornos jüngste und für ihn ungewöhnlich optimistische Beurteilung der Möglichkeit von "Aufarbeitung der Vergangenheit" hinsichtlich des Antisemitismus:

"Soweit man ihn [= den Antisemitismus] in den Subjekten bekämpfen will, sollte man nicht zu viel vom Verweis auf Fakten erwarten, die sie vielleicht nicht an sich heranlassen, oder als Ausnahmen neutralisieren. Vielmehr sollte man die Argumentation auf die Subjekte wenden, zu denen man redete. Ihnen wären die Mechanismen bewusst zu machen, die in ihnen selbst das Rassevorurteil verursachen. Aufarbeitung der Vergangenheit als Aufklärung ist wesentlich solche Wendung aufs Subjekt, Verstärkung von dessen Selbstbewusstsein und damit auch von dessen Selbst. Sie sollte sich verbinden mit der Kenntnis jener unverwüstlichen Propagandatricks, die genau auf jene psychologischen Dispositionen abgestimmt sind, deren Vorhandensein in den Menschen wir unterstellen müssen. Da diese Tricks starr sind und von begrenzter Zahl, so bereitet es keine gar zu großen Schwierigkeiten, sie auszukristallisieren, bekannt zu machen und für eine Art von Schutzimpfung zu verwenden."(1)

Als vierzig Jahre später das Düsseldorfer Attentat – meines Wissens bis heute unaufgeklärt – im Milleniumsjahr 2000 die Öffentlichkeit erschütterte, hatten seit fast drei Jahrzehnten in Schule und in Öffentlichkeit regelmäßige "Schutzimpfungen" im Sinne Adornos stattgefunden. Gleichwohl machte man sofort ein Aufklärungsdefizit in der Schule verantwortlich, die Auseinandersetzung um den Geschichtsunterricht kulminierte in der unglaublichen Forderung des Bremer Kultusministers und damaligen Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz, die Lehrer sollten in ihrem Unterricht durch Hospitationen kontrolliert werden. Niemand kam damals auf die Idee, einen Blick in die von den Kultusbehörden autorisierten Lehrbücher zu werfen.

Wie ist der derzeitige Stand der "Schutzimpfung" gegen Antisemitismus im Schulunterricht? Im Vorfeld der Ausstellung "Europas Juden im Mittelalter", die ab November in Speyer zu sehen ist, wollen wir nachsehen, wie denn diese Epoche, Angelpunkt der Vorurteilsbildung, im Unterricht thematisiert wird.

Impfung wogegen? Virus "Geldjuden"

Die Problematik des Umgangs mit der jüdischen Geschichte ist noch nicht damit gelöst, dass die Lehrbücher einzelne Pflichtthemen, die sich am Leitmotiv der Verfolgung orientieren, stärker berücksichtigen als früher. Dahinter wird kaum greifbar, wie Juden in der christlichen Umwelt über Jahrhunderte wirklich lebten, warum sie "bei uns" lebten und wie sich ihre Situation im Laufe der Zeit veränderte. Und selbst der (im Rahmen der Möglichkeiten) aufrichtigste Versuch aufklärerischen Unterrichts sieht sich oft mit ungewollten Resultaten konfrontiert, denn der Anti-Antisemitismus scheint kontraproduktiv auch seine eigene Antithese zu bestätigen, nämlich antisemitische Klischees und Vorurteile, wie im Nachfolgenden gezeigt werden soll.

So hieß es in einer Schülerarbeit (Lernkontrolle) in Geschichte Klasse 8 (Gymnasium): "Die Kreuzritter wollten die Juden umbringen, denn die Juden hatten größere Reichtümer (Geld, Land ...) und mehr Rechte als die Christen. Die Kreuzritter wollten dem aber ein Ende bereiten, so kam es zur Judenverfolgung. ... Sie ermordeten kaltblütig jeden, der nicht den Christen angehörte, sie wollten sich rächen ..." Dies ist eines von vielen Beispielen, repräsentativ nicht für alle, aber für viele Schülerinnen und Schüler, aus meiner eigenen Erfahrung als Geschichtslehrer. Thema war der 1. Kreuzzug, auf dessen Weg gleich zu Beginn in den rheinischen Städten auch das erste systematische Pogrom an der dort ansässigen jüdischen Bevölkerung begangen wurde. In Ergänzung des Lehrbuchs behandelte ich mit meinen Schülern die Vorgeschichte der Verfolgungen, und zwar beispielhaft die planmäßig durchgeführte Ansiedlung von jüdischen Kaufleuten in Speyer "zur Mehrung der Ehre der Stadt" durch den Stadtherrn, Bischof Rüdiger Hutzmann, im Jahre 1085. Die entsprechende Urkunde, eines der wichtigsten mittelalterlichen Dokumente, sollte den Status der jüdischen Gemeinde auch bei seinen Nachfolgern garantieren. Doch wer meint, das sperrige Thema im Unterricht auf diese Weise so einfach in den Griff zu bekommen, muss sich eines Besseren belehren lassen. Neben Resultaten wie dem oben genannten kam es dabei auch zu folgender Eintragung eines Schülers in sein Geschichte-Hausheft: "Der Bischof meint, dass er den Juden zu gute Lebensbedingungen gegeben hat." Das kleine Wörtchen "zu" reicht, um das Ganze in sein Gegenteil zu verkehren ...

Was steht aber im Lehrbuch? Es erwähnt die antijüdischen Pogrome 1096 in den rheinischen Städten, erklärt aber an dieser Stelle nicht, wie die jüdischen Gemeinden entstanden waren: "Dort gab es reiche Judengemeinden, die bisher im Frieden mit den christlichen Bürgern gelebt hatten und den Schutz der Kaiser und Bischöfe genossen. Die Kreuzfahrer dagegen sahen in den Juden die Mörder des Heilandes Jesus. Sie überfielen sie auf offener Straße und schlugen sie tot ..." (Anno 2, S. 35). Was hier mit der Insistenz auf den Schutz durch Kaiser und Bischöfe wohl dem Leser vermittelt werden soll, wird durch dessen im selben Atemzug erzählte Wirkungslosigkeit ad absurdum geführt, die Motive der "Beschützer" bleiben ungenannt, nicht aber die Motive der Judenfeinde, und zwar die direkten: Juden als "Mörder des Heilandes Jesus", wie die indirekten: "reiche Judengemeinden". Die Schülerreaktionen zeigen, dass es nicht so einfach möglich ist kontextlos von "reichen Juden" zu sprechen ohne sofort das antisemitische Klischee zu reproduzieren.

Die winzigen jüdischen Gemeinden des frühen Mittelalters wie im Beispiel Speyers gingen vorwiegend auf seit der Karolingerzeit gezielt angeworbene Händler zurück, die dafür die "green card" des Mittelalters bekamen: das Privileg einen Fernhandel aufzubauen und dafür weitgehend nach eigenen religiösen und kulturellen Gesetzen leben zu dürfen. Doch "Privileg" steht in unserem modernen Verständnis synonym für moralisch unberechtigtes Vorrecht; wenn Privilegien und Juden ohne historische Begriffsklärung zusammentreffen, ist der Teufelskreis des Vorurteils bereits wieder geschlossen, obwohl er aufgebrochen werden sollte. So heißt fatalerweise im Oberstufenwerk Geschichte und Geschehen eine Randüberschrift zum Thema Juden: "Privilegien, Verfolgung, Vertreibung" (S. 169). Doch Privilegien waren nur mittelalterliche Lizenzen für alle möglichen wirtschaftlichen Betätigungen.

Das universelle Rudiment aller Kenntnisse über die jüdische Vergangenheit, das viele Schüler schon internalisiert haben, noch bevor das Thema im Geschichtsunterricht angesprochen wird, ist, dass die Juden Geldverleiher wurden, weil den Katholiken das Zinsnehmen verboten war. Das didaktische Rudiment fachwissenschaftlicher Erklärung lautet in unserem Buch so: "Im frühen Mittelalter waren sie als Fernhändler unentbehrlich. Zunehmend wurden sie jedoch von christlichen Kaufleuten aus dem Warenhandel in das Geld- und Pfandleihgeschäft abgedrängt. Oft nahmen sie sehr hohe Zinsen um ihr Risiko abzusichern und die Steuern entrichten zu können, die Könige und Fürsten zu ihrem Schutz forderten. Für viele Christen waren ihre Schulden bei den Juden erdrückend. Der Reichtum weckte Neid und Hass. ..." (S. 100) Man beachte auch hier die "logische" Entwicklung: Erst wurden die Christen von den Juden abhängig, dann bei ihnen verschuldet ... – schon bei der Quantifizierung "viele Christen" schlägt jedoch der Versuch der Erklärung in eine klischeehafte Konfrontation zum "Geldjuden" um.

Die notwendige didaktische Reduktion des Stoffes in Lehrbuch und Unterricht birgt immer die Gefahr der Verfälschung durch Verkürzung. Dies droht durchgängig beim Thema Wucher und Schulden; kaum ein Lehrwerk ordnet den Geldverleih durch die Juden in eine allgemeine Darstellung des Kreditwesens ein. Lediglich in dem Themenheft Jüdisches Leben in christlicher Umwelt wird zum Beispiel der Historiker Ben-Sasson über die Situation nach der Vertreibung der Juden im 14. Jahrhundert zitiert: "Tatsache war, dass die wenigen in der Stadt verbliebenen christlichen Geldverleiher, der jüdischen Konkurrenz ledig, weit schonungsloser mit ihren Schuldnern verfuhren." (S. 46). Entsprechend geißelte 1494 Sebastian Brant in seinem Narrenschiff auch die christlichen Wucherer: "Der Juden Zins war leidlich genug,/ Aber sie können nicht mehr bleiben,/ Die Christenjuden sie vertreiben,/ Die mit dem Judenspieß selbst rennen."(2)

Die neuere und neueste Schulbuchgeneration bemüht sich gewiss um eine hermeneutische Identifizierung mit den Juden, das heißt um ein Sich-hinein-Versetzen in deren Lage, doch finden sich kaum die dafür notwendigen kontextuellen Erklärungen. Die vorgebrachten rationalen Argumente zur Erklärung des "Wuchers": Das Risiko, die Rarität des Geldes oder die stereotype Erklärung mit den Schutzgeldern und Steuern, die die Juden zahlen mussten ..., reichen nicht aus, um die Verknüpfung zwischen Zinshöhe, Verschuldung und Schuld im moralischen Urteil aufzubrechen, jeder Leser wird sofort ein Verständnis auch für die Lage der dadurch in Not geratenen Schuldner empfinden: Verschuldung der einen – Schuld der anderen, wenn auch ungewollt. Auf diese Weise entstehen dann selbst beim besten Willen zum Verständnis der jüdischen Seite bei den Schülern Formulierungen wie die oben zitierte: "... man wollte sich rächen."

Eine sinnvolle Erklärung kann daher nur durch eine differenzierte Einbettung in die sozioökonomische Gesamtsituation erfolgen. Wofür wurden Kredite aufgenommen? Wir müssen uns dabei von unseren heutigen Vorstellungen lösen. Als sich die Geldwirtschaft erst wieder richtig entwickelte, handelte es sich zunächst nur um kurzfristige Anleihen: Wer durch eine Handelstransaktion Gewinnspannen von 100 Prozent und mehr erzielen konnte, konnte wohl zur Finanzierung einen Zinssatz von 33 Prozent und mehr entrichten. Der Kreditgeber war hier fast so etwas wie ein Beteiligter am Geschäft, und genau diese Idee setzten die christlichen Bankiers zur Umgehung des kirchlichen Zinsverbots um. Die Beteiligungsidee entsprach der damals jüngsten Innovation im Handelwesen, die zunächst im mediterranen Fernhandel von der damals führenden Stadt Genua entwickelt wurde: Kommanditäre (von ital. commenda) waren als Kapitalgeber zu 25 bis 50 Prozent am Unternehmen beteiligt, wie ein überlieferter Kontrakt von 1163 für eine Handelstour von Genua ins arabische Tunis belegt, deren Gewinn zur Hälfte geteilt wurde.(3) Dieses Prinzip breitete sich zumindest auch im süddeutschen Raum aus: "Aus gelegentlichen Personalgesellschaften mehrerer Kaufleute für bestimmte Unternehmen wurden Kapitalgesellschaften auf der Grundlage des Commenda-Vertrags (Kapitaleinlage ohne persönliche Mitarbeit), die ein reines Kapitalrenteneinkommen gewährten. ... Das Geldgeschäft wurde von großen (Familien-)Gesellschaften wie den Fuggern monopolistisch organisiert und ermöglichte die Zusammenballung großer Vermögen, die wieder zum Erwerb genutzt wurden. Kapital und Firma wurden selbständig."(4) Auch von jüdischer Seite wurde diese Idee aufgegriffen, so beschloss eine jüdische "Synode" in Mainz 1220: "Man darf nur dann Geld verleihen, falls man am Geschäft des Leihenden auf Gewinn und Verlust zur Hälfte beteiligt wird."(5) Wenn die Forderung nach 50 Prozent Beteiligung zunächst sehr hoch erscheint, so ist doch der entscheidende Punkt die entsprechende Beteiligung am Risiko. Freilich blieb es beim Wunsch nach solch einer "jüdischen Commenda", denn diese Form der Integration durch Gleichberechtigung war in der christlichen Gesellschaft nicht erwünscht. Übrigens wurde und wird in strenggläubigen islamischen Ländern heute noch das Zinsgeschäft als Unternehmensbeteiligung kaschiert.(6)

Juden wurden wie Christen zu Geldverleihern dadurch, dass sie im frühen Mittelalter selbst als Kaufleute sowie als Geldwechsler auf Märkten und Messen Kapital erworben hatten. Als durch die Lockerung des Zinsverbots beziehungsweise durch dessen Umgehung die Italiener im Finanzwesen führend wurden, und dieses sich schließlich überall durchsetzte, entstand als fatale Folge auf längere Sicht das Phänomen, dass nicht kreditwürdige Kunden in den Augen christlicher Bankiers, also eher die kleinen Leute, die nicht über die Runden kamen, "zum Juden" gehen mussten und daraus ein Verschuldungs- und Verelendungsprozess mit sozialer Brisanz entstehen konnte. Im Übrigen war die Handelstätigkeit von Juden noch im 12. Jahrhundert uneingeschränkt und die Pfandleihe nur eine ihrer beruflichen Betätigungen. Auch nach der zunehmenden Ausgrenzung aus der Gesellschaft blieben noch andere Tätigkeiten wie die des Trödlers und Kleinhändlers auf Märkten und so weiter, außerdem sicherten die mit Tätigkeiten außerhalb der jüdischen Gemeinde erzielten Einkommen wiederum das Einkommen für alle handwerklichen Berufe innerhalb der Gemeinde, deren Mitglieder nach Einrichtung der Gettos übrigens zumeist in bescheidenen, wenn nicht ärmlichen Verhältnissen lebten.

"Geldverleih" oder "Kreditwesen"?

Juden waren also nicht nur Geldverleiher und nicht alle Geldverleiher waren Juden. Diese einfache historische Wahrheit hat es auch heute noch schwer, zur Geltung zu kommen. Eine differenzierte Betrachtung der jüdischen Lebenswelt findet sich in den Lehrwerken, wenn überhaupt, dann nur für das frühe Mittelalter; mit der Einschränkung der beruflichen Freiheiten durch Zünfte und Gilden und der schrittweisen gesellschaftlichen Ausgrenzung seit dem 12./13. Jahrhundert drängt sich schon fast von selbst die Vorstellung auf, die Juden hätten nur noch im Geldgeschäft ihre existenzielle Nische gefunden. So verfestigt sich nolens volens das Vorurteil vom "Geldjuden" als solches, trotz der obligatorischen Verurteilung der antijüdischen Gewalttaten, trotz deren materialistischer Erklärung (durch das Sündenbock-Schema usw.). Als ich in einer 9. Klasse die Entstehung der Französischen Revolution behandelte, zeigte ich unter anderem eine bekannte Karikatur aus der Zeit, die die leeren Kassen des französischen Königs dadurch erklärte, dass ein Mönch (oder jedenfalls ein Kleriker) und ein Adliger Säcke voll Geld wegschleppten. Die Schüler sollten dies aus der Darstellung selbst erkennen. Während der Geistliche schnell an seiner Kutte erkannt wurde, war die erste Reaktion einer Schülerin auf die andere Figur: "Das ist ein Jude." Das war gar nicht böse gemeint, im Gegenteil, sie wollte hier einen Aspekt von Antisemitismus in der Karikatur aufzeigen, den es dort gar nicht gab. Das aufklärerische Schuldbewusstsein des Anti-Antisemitismus reproduzierte hier ungewollt nicht nur das "normale" Klischee, sondern das Vorurteil quasi auf der Meta-Ebene als Vorstellung der Vorstellung, die die Leute vermeintlich haben mussten: Wer reich ist, weil er stiehlt, muss Jude sein.

Vom Klischee des "Geldjuden" ist es nur ein Schritt zur Nazi-Parole vom "internationalen Finanzjudentum". In Wirklichkeit hatte das katholische Zinsverbot ja nur anfänglich eine Bedeutung, wenn überhaupt; die Insistenz auf das Zinsverbot und die reduktive Erklärung des sozialen Antijudaismus mit der Zins- und Verschuldungsproblematik im Geschichts-, Sozialkunde oder Religions-/Ethikunterricht suggeriert zwangsläufig, das Geldwesen sei überhaupt "in jüdischer Hand" gewesen (das "Rothschild-Syndrom"). So heißt es zum Beispiel in Wir machen Geschichte, wo über Seiten der Leidensweg der mittelalterlichen Juden aufgezeigt wird, über den von Friedrich II. verliehenen Status der "Kammerknechtschaft" für die Juden: "Da mit der Kammer das kaiserliche Schatzamt gemeint war, bedeutete dies, dass Juden als unfreie Finanzobjekte des Reiches betrachtet wurden, die vor allen Dingen hohe Steuern zahlen mussten. Um diese aufbringen zu können wurden die Juden noch mehr als früher und schließlich gänzlich zu Geldverleihern." (S. 134) Hier kehrt sich die "politische Korrektheit" in ihr Gegenteil um, denn im Versuch, die vorurteilsbehaftete Tätigkeit durch eine historische Erklärung aufzulösen – die Juden waren nicht freiwillig Geldverleiher, sie wurden zwangsweise dazu – wird das Vorurteil in seinem historisch falschen Kern bestätigt: Alle Juden wurden "gänzlich zu Geldverleihern". In Weltgeschichte im Aufriss wird der Historiker Battenberg zitiert: "Dies alles musste schließlich zu einer weiteren Vorurteilsbildung gegenüber den Juden führen: Da diese den Christen in aller Regel nur noch als Geldgeber gegenübertraten, verfestigte sich das negativ besetzte Bild der Christen von den Juden."(7) Formulierungen wie "dies musste zu Vorurteilen führen" sind – wenn auch ungewollt – semantisch und dadurch pädagogisch katastrophal. Vor allem aber vollzieht sich auch der Umkehrschluss fast ganz von selbst: Wenn alle Juden Geldverleiher waren, waren dann nicht alle Geldverleiher Juden ...?

Doch das Bild des Geldjuden ist nicht deswegen ein Vorurteil, weil es zu beklagenswerten Gewalttaten führte, sondern weil es historisch falsch ist. Wie sah es zum Beispiel dort aus, woher die Rothschilds kamen, in der Frankfurter Judengasse? Zu Lebzeiten des Stammvaters Meyer Amschel Rothschild, Ende des 18. Jahrhunderts, "war die Erwerbstätigkeit der Juden auf das Wechsel- und Pfandleihgeschäft und den Kleinhandel beschränkt. Die Mehrheit war arm und lebte vom Trödelhandel, von der Pfandleihe und vom Wechselgeschäft, das insbesondere während der Messen blühte. Einzelne Familien hatten es im Geldgeschäft zu erheblichem Wohlstand gebracht" (8) – aber eben nur einzelne, wie die Rothschilds. Dass die Juden ihrer Abdrängung in Pfandleihe und Geldgeschäft nach der Privilegierung der christlichen Korporationen (Zünfte und Gilden) erfolgreich entgegenwirken und ökonomische Nischen bewahren beziehungsweise sogar wieder erobern konnten, zeigt die vom Museum Judengasse in Frankfurt zusammengestellte Internet-Datenbank, wo sich eine Liste von 43 Berufen mit detaillierten Angaben findet (www.judengasse.de). Etliche der dort aufgelisteten Berufe belegen die fortgesetzten wirtschaftlichen Beziehungen des Gettos zur christlichen Umwelt unabhängig von Finanzgeschäften. Für die Spätzeit des "Mittelalters" aus jüdischer Sicht (d. h. vor der Emanzipation), nämlich das 18. Jahrhundert, erwähnt dann auch Weltgeschichte im Aufriss "die breite pauperisierte Masse des so genannten Betteljudentums (vor allem kleine Hausierer) ..., die aufgrund fehlenden Vermögens den landesherrlichen Schutz nicht bezahlen konnte und daher ständig von Ausweisung bedroht war. Sie machten um 1780 etwa 90 Prozent des deutschen Judentums aus ..." (S. 331).

Mit der Internationalisierung und Intensivierung des Handels im Mittelalter entstand die Notwendigkeit einer modernen Geldwirtschaft, an der auch die Christen nicht vorbeikonnten. So erhielten zunächst die Mailänder Kaufleute ein entsprechendes Privileg und gründeten in ganz Europa Filialen ihrer lombardischen Banken, wenig später folgten die toskanischen Städte und bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurde der Florentiner Gulden zur ersten Leitwährung des Abendlandes, Venedig wurde im 14. Jahrhundert zum Tor in die Levante. Dennoch bleibt eine singuläre Verknüpfung "Juden – Geld – Abneigung" bestehen, denn sowohl inhaltlich wie sprachlich besteht in der Darstellung ein Unterschied zwischen dem negativ besetzten "Geldverleih" hinsichtlich der Juden und dem positiv besetzten "Kreditwesen" hinsichtlich der italienischen Bankiers. So heißt es in Geschichte und Geschehen: "Um bei den weiten Handelswegen lange Zahlungsfristen und Lieferungsverzögerungen zu vermeiden, gingen die Kaufleute zur Vorfinanzierung, d. h. zur Verpfändung künftiger Einnahmen über. Sie räumten Kredite ein, stellten Schecks aus ... Neben den wagemutigen italienischen Handelsherren traten ebenso risikofreudige Bankiers. ... Mit ihren Handelsverbindungen fanden gewinnbringende Geschäftspraktiken und neue Bezeichnungen im Geldwesen den Weg nach Norden über die Alpen." (S. 197) Dabei hatte es jedoch im 15. Jahrhundert innerhalb der Hanse einen regelrechten Kampf gegen die lombardischen Banken und den von ihnen eingeführten "Borgkauf" gegeben, was zur Schließung etlicher Bankfilialen in Norddeutschland führte, und das, obwohl oder vielleicht gerade weil "der Gebrauch des Kredits ... in der hansischen Welt seit dem 13. Jahrhundert weit verbreitet" war.(9)

Virus "Absonderung"

Zu den klassischen antisemitischen Vorurteilen gehört auch das der gewollten Absonderung der Juden. So heißt es im Rückspiegel: "Den Menschen des Mittelalters war der Jude Jesus kein Problem, wohl aber ihre jüdischen Zeitgenossen. Das – fast – geschlossen christliche Abendland, das fremde Völker, wenn sie Christen wurden, durchaus aufnehmen konnte, hatte große Probleme mit den Juden, die ihre Andersartigkeit beibehalten wollten. ... Besonders die Frommen unter ihnen hielten die Taufe sogar für einen Verstoß gegen das göttliche Gesetz (hebräisch Thora). Durch ihre Ablehnung der Taufe wurden sie zu einer gesellschaftlichen Minderheit." (S. 91f.) Natürlich werden auch in diesem Lehrbuch, das sein Kapitel "Juden im christlichen Abendland" mit dem eingangs zitierten denkwürdigen Satz beginnt, antisemitische Vorurteile und Judenverfolgungen verurteilt. Gleichzeitig wird jedoch massiv der Eindruck vermittelt, die Juden seien an ihrer Lage selbst schuld oder zumindest mitschuldig gewesen – nicht an ihrer Verfolgung, aber an ihrem Ausgestoßensein, das dann die Verfolgungen nach sich zog. Die Relativierung der Schuld durch deren Aufteilung auf Verfolgte und Verfolger zeigt sich noch einmal am Schluss: "Die Behandlung der Juden im christlichen Abendland während des Mittelalters gehört zu den Schattenseiten Europas", heißt es dort, aber "für das christlich geprägte Mittelalter gilt, dass das Judentum ein Fremdkörper blieb, obwohl ohne Judentum das Christentum nicht existieren würde" (S. 93). Schon die Vokabel "Fremdkörper" ist semantisch ganz eindeutig nicht eine Anklage gegen die Christen, sondern ein Vorwurf an die Juden.

Unter der Zwischenüberschrift "Die Religionen grenzen sich ab" wird in Wir machen Geschichte eine Gleichwertigkeit zwischen der Ausgrenzung durch die Kirche (4. Lateranisches Konzil 1215: Kennzeichnungspflicht für Juden durch einen gelben Fleck o. Ä.) und einer Selbstabgrenzung durch die Juden hergestellt: "Auf drei Synoden zwischen 1208 und 1223 verboten Rabbiner persönliche Kontakte mit Christen, ja selbst Anpassungen an die nicht-jüdische Haar- und Barttracht" (S. 133). Tatsächlich gab es innerhalb der jüdischen Gemeinden und zwischen den als Autoritäten geltenden Rabbinern stets Kontroversen über den Grad der Anpassung an die Umwelt, wobei sich Traditionalisten und Pragmatiker von Anfang an gegenüberstanden. Nach den ersten Verfolgungserfahrungen sowie Tendenzen zur Auflösung des inneren Zusammenhalts, die so weit gingen, dass christliche Autoritäten (Kaiser, Bischof) zur Lösung innerjüdischer Streitfälle und für persönliche Karrieren angerufen wurden (ganz abgesehen von Übertritten zum Christentum, die sowohl Christen wie Juden Kopfzerbrechen bereiteten), erhielten Rückbesinnung auf die Tradition und Abgrenzung sicherlich enormen Auftrieb. Gleichwohl ist es falsch, dies zu einem "Kontaktverbot" mit Christen hoch zu stilisieren, das zwar für die Christen letztlich möglich, für die Juden jedoch unmöglich gewesen wäre und als Begriff schon Assoziationen zum Getto hervorruft. Resultate solcher Parallelisierungen sind dann nicht von ungefähr Schlussfolgerungen wie jene in einer freien Schülerrecherche zum Thema Getto (8. Kl.): "Die Entstehung der frühen Gettos ist sowohl auf die Intoleranz der Christen als auch auf den Wunsch der Juden zurückzuführen, gemeinsam und abgeschlossen zu leben." Dass dies als wörtliches Zitat von der entsprechenden Seite von www.shoa.de übernommen wurde, macht es leider auch nicht besser ...

Worum ging es aber den in Mainz 1220 versammelten Rabbinern? "Einmütig haben wir verordnet und unterzeichnet, es gehe kein Jude in nichtjüdischen Gewändern, er trage keine durchlöcherten Schnürärmel, er habe auch keine fremde Haartracht und schere nicht den Bart." Eine äußerliche Abgrenzung, die gewiss an die Bestimmungen des 4. Lateranischen Konzils erinnert, doch dort endet auch schon die Parallele. Weitere Bestimmungen betreffen vielmehr den Umgang mit den Christen, nicht dessen Verbot; so legte die zweite jüdische Mainzer Synode von 1223 größten Wert auf Redlichkeit, indem sie zum Beispiel "verordnete, dass sich Juden keinerlei Unehrlichkeit gegen Christen und keine Münzfälschung zu Schulden kommen lassen sollten."(10) Außerdem wurde bei Finanzgeschäften die oben genannte Risikobeteiligung nach dem Commenda-Prinzip zur Richtlinie gemacht (ohne realisiert werden zu können). Zum Thema Abgrenzung von den Christen lässt sich zusammenfassend feststellen: Alles in allem "ging man so weit, dass man die Kontaktmöglichkeiten Einzelner mit Christen auf das Notwendige beschränkte" (11), dies stellte aber kein Kontaktverbot dar, wie es zur gleichen Zeit der katholischen Kirche vorschwebte, freilich ebenfalls ohne Chancen auf Realisierung.

Schuld und Kompensation: "... Juden und Christen: Miteinander leben"

Das Grundproblem der Behandlung jüdischer Geschichte im Unterricht ist das Verfolgungsparadigma. Trotz der Pogrome des ersten Kreuzzugs muss man jedoch zwischen einer Periode sporadischer Verfolgungen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts und einer anschließenden Periode massiver systematischer Verfolgungen unterscheiden, auf die erst als dritte Phase die Bildung der Gettos im eigentlichen Sinne erfolgte (12): Die 1460–62 errichtete Frankfurter Judengasse (13) kann als das erste Getto in Deutschland gelten, das heißt als ummauerter und nachts sowie an christlichen Feiertagen durch Tore verschlossener Bezirk außerhalb oder am Rande der Stadt, und vielleicht als erstes Getto überhaupt, denn es entstand noch etliche Zeit vor dem später namensgebenden Viertel Ghetto nuovo in Venedig (1516).

Da jedoch im schuldbewussten Rückblick das Mittelalter seit dem 1. Kreuzzug 1096 in seiner Ganzheit vom Verfolgungsaspekt verdunkelt wird, gibt es Versuche, diesen christlich-europäischen "Sündenfall" durch die Konstruktion eines "goldenen Zeitalters der Juden" in der vorangehenden Ära des frühen Mittelalters zu kompensieren, im Sinne von: Es muss ja irgendwann auch einmal "normale" Verhältnisse gegeben haben! In Wir machen Geschichte und Forum Geschichte wird dazu als Quelle ein persischer Bericht von 850 über die "Radaniten" genannten jüdischen Fernhändler gebracht, die einen Handelsverkehr zwischen Europa, Byzanz und Orient unterhielten; darin heißt es bezüglich der Waren, die sie von Westen nach Osten lieferten: "Sie bringen aus dem Abendland Eunuchen, Sklavinnen, Knaben, Seide, Pelzwerk und Schwerter" (S. 126 bzw. S. 93). In einem ebenfalls abgedruckten Text des Bischofs Agobard von Lyon (826) heißt es ergänzend dazu: "Wir haben den Christen gepredigt, sie sollten den Juden keine christlichen Sklaven verkaufen" (Wir machen Geschichte, S. 126). Im Oberstufenwerk Grundriss der Geschichte 1, das freilich bereits einer jetzt auszumusternden Generation von Lehrbüchern angehört (verfasst 1989), heißt es ähnlich über das frühe Mittelalter: "Die Fernhändler im nördlichen Teil Europas waren freilich in der Regel keine Einheimischen, sondern die in diesem Gewerbe schon seit der Spätantike tätigen Juden. Im Austausch gegen Luxusgüter der Muslime trieben sie mit Zentraleuropa einen blühenden Handel mit Sklaven meist slawischer Herkunft" (S. 139).

Man kann sich vorstellen, welche Wirkung die Auflistung dieser Waren (Eunuchen, Sklav(inn)en, Knaben!) beim Leser, zumal bei Schülern, hervorrufen muss, und es ist daher kein Zufall, dass die antisemitische Propaganda zum Beispiel im Internet auch diese Quelle in ihrem Sinne instrumentalisiert. Dabei geht es in erster Linie nicht einmal um die Frage nach dem Wahrheitsgehalt – äußerst zweifelhaft ist, ob die Radaniten Seide vom Abendland ins Morgenland brachten –, sondern um den Kontext: Was hieß im Mittelalter Sklaverei? Was für Sklaven gab es und was für einen Sklavenhandel überhaupt? Wird dies nur im Zusammenhang mit dem "goldenen Zeitalter der Juden im Abendland" (so die Überschrift im Buch) zur Sprache gebracht, schließt sich schnell der Zirkel zurück vom Urteil zum Vorurteil. Verbunden mit dem Thema der späteren Verfolgungen entsteht der Eindruck, dass die Juden durch einen aus heutiger Sicht unmoralischen Fernhandel reich wurden, um sich dann, wenn auch gezwungenermaßen, auf den Beruf des "Schacherers" und "Wucherers" zu spezialisieren. Statt das Verfolgungsthema zu entlasten, wie es wohl die Absicht der Autoren war, um zu zeigen, dass es auch eine Zeit der "Normalität" gegeben habe, wird das Verfolgungsparadigma erst richtig abgerundet, denn auch in der antisemitischen Lesart war die Verfolgung nur die Reaktion darauf, dass es den Juden gut – "zu gut" – ging auf Grund moralisch verwerflicher Tätigkeit.

In allen Büchern werden Quellentexte antijüdischer Maßnahmen der Kirche vorgelegt, wenn es sich auch oft auf das berühmte Konzil von 1215 reduziert. Die Rolle der Kirche in den antijüdischen Verfolgungen wird ansonsten jedoch minimiert, da der Antijudaismus, wie gezeigt, allgemein aus den sozialen Konflikten heraus und die Pogrome als spontane Aktionen des Pöbels erklärt werden, wenn auch das religiöse Motiv wie zum Beispiel in den Kreuzzügen Erwähnung findet. Jedoch stehen sich "Christen und Juden" gegenüber, die Kirche als Institution bleibt im Hintergrund. Das "materialistische" Erklärungsmuster linker Provenienz schafft es sogar noch, das durch und durch religiöse Motiv auf den Aspekt der Ausraubung der Juden zurückzuführen: "Furchtbar wirkte sich der christliche Kreuzzugseifer für die jüdischen Gemeinden aus. Kreuzfahrer überfielen die Juden in Speyer, Worms, Mainz und Köln. Diese Fanatiker unterstellten den Juden die Schuld am Tod Jesu. So glaubten sie sich im Recht, sich an Ort und Stelle an den angeblichen Feinden des Christentums rächen zu können. Vor allem aber konnten sie mit dem geraubten Besitz ihre Fahrt zum Heiligen Grab finanzieren." (Geschichte und Geschehen A 2, S. 140) Die Vokabel "vor allem" setzt den Akzent ...

Unabhängig von einzelnen Verfolgungen ging jedoch spätestens seit dem 13. Jahrhundert eine antijüdische Dauerpropaganda von der Kirche aus – wenn auch einzelne Päpste und Bischöfe dem entgegenarbeiteten –, weswegen diese mehr ins Zentrum gerückt werden müsste, die katholische für das ganze Mittelalter, die lutheranische jedoch auch für die Folgezeit. An ikonographischen Quellen mangelt es dabei nicht, es gibt zahlreiche allegorische Darstellungen von Ecclesia und Synagoga, zum Beispiel am Straßburger Münster oder am Bamberger Dom. Die beiden Frauengestalten repräsentieren als Ecclesia die Kirche als gekrönte Herrscherin, die Synagoge mit verbundenen Augen jedoch als die Leugnerin des Evangeliums. Doch gibt es noch weitaus drastischere Verbildlichungen der Verurteilung des Judentums in und an Kirchen, etwa die Darstellung von "Judensauen" im 15. Jahrhundert, die den Bogen von der religiösen Verurteilung zum volkstümlichen Hass schlugen.

Doch der krampfhafte Versuch in vielen Lehrbüchern, irgendein Miteinander in das Gegeneinander hineinzulesen – "Muslime, Juden und Christen: Miteinander leben" heißt auch das "politisch korrekt" formulierte Kapitel im Wir machen Geschichte –, geht an dieser Stelle, die Religionen betreffend, an der Wahrheit vorbei und wäre an anderer Stelle, nämlich in der sozialen Realität des mittelalterlichen Stadtlebens, angebrachter. So versucht zum Beispiel die pädagogische Schriftenreihe des Jüdischen Museums Frankfurt anhand von Quellen nahe zu bringen, wie trotz der periodischen Konflikte, Ausweisungen und sogar Massaker Juden und Christen tatsächlich "miteinander" lebten, und zwar oft genug gegen die Mahnungen der Autoritäten, vor allem der Kirche.

Kurze Bilanz des Anti-Antisemitismus

Bei aller Berücksichtigung der Schwierigkeiten, dieses Thema im Unterricht und in den Lehrbüchern adäquat zu behandeln, wie ich es ja auch selbst erlebe, und des dabei herrschenden Zwangs zur didaktischen Reduktion besteht wohl das entscheidende Defizit in einer mangelhaften Kenntnis der Fakten, auf die es gerade und im Gegensatz zu Adornos eingangs zitierter Analyse sehr wohl ankommt: Im Wunsch nach Verurteilung der Vorurteile meinen wir irrtümlicherweise die Geschichte durch diesen Vektor hindurch ausreichend zu kennen. Hierin liegt das Grundproblem dessen, was das Leo-Baeck-Institut in seiner letztes Jahr veröffentlichten Orientierungshilfe für Lehrplan und Schulbucharbeit ebenfalls kritisiert: "Die deutsch-jüdische Geschichte wird im Schulbereich nach wie vor zumeist defizitär, einseitig und dadurch auch verzerrend behandelt. ... Noch immer stehen bei der Berücksichtigung in Lehrplänen und Schulbüchern sowie im Unterricht – von Ausnahmen abgesehen – der Antisemitismus, die Verfolgungsgeschichte und der Holocaust einseitig im Vordergrund. Zwar ist fortdauerndes Erinnern an die Judenverfolgung und den Zivilisationsbruch des Holocaust im Unterricht unverzichtbar, doch eine weit gehende Reduzierung der deutsch-jüdischen Geschichte auf diese Dimension ist didaktisch verfehlt. Sie lässt Juden vorzugsweise als Objekte und Opfer deutscher Geschichte erscheinen, nicht jedoch als Träger einer eigenen Kultur und als Mitgestalter der modernen Welt."(14)

Die Aufarbeitung der jüdischen Geschichte ist bei uns durch die Abarbeitung an der deutschen Schuld geprägt und daher perspektivisch auf den Verfolgungsaspekt verengt. Das Problem des Anti-Antisemitismus ist er selbst, sein "search and destroy" des Antisemitismus. Bei allen Unterschieden dominiert die ethisch-moralische Verurteilung der Gewalttaten als Darstellungs- sowie Lernziel, was natürlich richtig, aber nicht nur unzureichend ist, sondern auch, wie gezeigt, oft mit kontraproduktiven Effekten der Perpetuierung von Vorurteilen einhergeht. Das heißt, es werden Vorurteile zwar verurteilt, aber kaum durch Urteile im Sinne einer adäquaten historischen Beurteilung ersetzt. Schon die durch das Schuldbewusstsein produzierte Idee einer ungebrochenen Kontinuität der Geschichte vom Mittelalter zum 20. Jahrhundert ist problematisch, weil sie letztlich die Kehrseite dessen ist, was die Nazis auch behauptet haben ("der ewige Jude"). So stehen zum Beispiel in den Arbeitsblättern für einen fächerübergreifenden Unterricht Juden in Deutschland Quellen aus allen Epochen chronologisch ungeordnet beziehungsweise gewollt anachronistisch nebeneinander, als solche durchaus aussagekräftig, aber dadurch den Eindruck erweckend, es habe eine Dauerverfolgung vom Mittelalter bis zur NS-Zeit gegeben, dem der Appell zum Miteinander und Zusammenleben als moralischer Imperativ gegenübergestellt wird. Dabei verliert sich zwangsläufig auch die Besonderheit des "modernen" rassenideologisch begründeten "Exterminismus" (um hier den Begriff von Goldhagen aufzugreifen), wenn er dem religiös begründeten Antijudaismus des Mittelalters an die Seite gestellt wird, zumal zwischen beiden ja eine längere Phase der staatsbürgerlichen Integration lag.

Zweiter Teil:
"Hilflose Aufklärung"?:
Der Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts

Verzeichnis der besprochenen Lehrbücher:
(Auf die Nennung der einzelnen Autoren wurde hier verzichtet)

Anno 2, Westermann 1995
Forum Geschichte 2, Cornelsen 2002
Geschichte und Geschehen (Mittelstufe) A 2, Klett 2002
Geschichte und Geschehen Oberstufe A 1, Klett
Geschichtliche Weltkunde 2, Diesterweg, 1981
Juden in Deutschland, 34 Arbeitsblätter für den fächerübergreifenden Unterricht Sek. I, Klett 1995
Jüdisches Leben in christlicher Umwelt, Cornelsen 1997
Rückspiegel 2, Schöningh 1995
Weltgeschichte im Aufriss 1 (Oberstufe), Diesterweg 1999
Wir machen Geschichte 2, Diesterweg 1997

Anmerkungen:
(1) Theodor W. Adorno: "Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?", in: Gesellschaft – Staat – Erziehung. Blätter für politische Bildung und Erziehung, Heft 1/1960, zit. n.: Ekkehart Krippendorf: "Einleitung", in: Erziehungswesen und Judentum. Die Darstellung des Judentums in der Lehrerbildung und im Schulunterricht, hrsg. vom Verband Deutscher Studentenschaften (VDS), zusammengestellt von Ekkehart Krippendorff in Zusammenarbeit mit Dieter Bielenstein, München: Ner-Tamid-Verlag 1960.
(2) Kapitel "Wucher und Aufkauf", vgl. Sebastian Brant: Das Narrenschiff, übertragen von H. A. Junghans, überarb. Ausg. Stuttgart: Reclam 1998. – Der "Spieß" war im Vokabular Brants eine der Metaphern der Narrheit, vielleicht ein Zusammenhang mit "Spießbürger".
(3) Jacques Le Goff: Das Hochmittelalter, Fischer Weltgeschichte Bd. 11, Frankfurt am Main 1965, S. 50.
(4) Karl Bosl: Staat, Wirtschaft und Gesellschaft im deutschen Mittelalter, Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte Bd. 7, Stuttgart: dtv 1973, S. 213f.
(5) Friedrich Battenberg: Das europäische Zeitalter der Juden, Bd. I, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgeswellschaft 1990, ²2000, S. 114f.
(6) Das Zinsverbot geht auf die biblische Tradition zurück (5. Moses 23) und galt auch innerhalb des Judentums und des Islams. Es wurde von den jeweiligen Religionsgemeinschaften zunächst im Geschäftsverkehr mit Partnern anderer Religion zugelassen und im Rahmen des Säkularisierungsprozesses dann auch innerhalb der eigenen Gemeinschaft, oft in versteckter Form. Dies gilt auch für die katholische Kirche.
(7) Weltgeschichte im Aufriss, S. 360, vgl. Battenberg Bd. 1, S. 20.
(8) Rachel Heuberger, Helga Krohn: Hinaus aus dem Ghetto ... Juden in Frankfurt am Main 1800–1950. Begleitbuch zur ständigen Ausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Frankfurt am Main, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1988, S. 13.
(9) Philippe Dollinger: Die Hanse, Stuttgart: Kröner 1976, S. 267.
(10) Heinrich Graetz: Geschichte der Juden (1875), Digitale Bibliothek, Bd. 44, Bd. 7, S. 22/DB S. 3183.
(11) Battenberg, a.a.O., S. 115.
(12) Für diese Klarstellung zur Periodisierung danke ich Martin Liepach vom Jüdischen Museum Frankfurt am Main; siehe auch: Michael Toch: Die Juden im mittelalterlichen Reich, München: Oldenbourg 1998.
(13) Zur Entstehungs- und Ausgrabungsgeschichte der Frankfurter Judengasse vgl. Egon Wamers und Markus Grossbach: Die Judengasse in Frankfurt am Main, hrsg. im Auftrag des Magistrats der Stadt Frankfurt am Main vom Museum für Vor- und Frühgeschichte der Stadt Frankfurt am Main, Stuttgart: Thorbecke 2000.
(14) Deutsch-jüdische Geschichte im Unterricht. Orientierungshilfe für Lehrplan- und Schulbucharbeit sowie Lehrerbildung Lehrerfortbildung, hrsg. vom Leo-Baeck-Institut/Kommission für die Verbreitung deutsch-jüdischer Geschichte, präsidiert von Georg Heuberger, Direktor des Jüdischen Museums Frankfurt am Main, Selbstverlag – Die Broschüre ist im Jüdischen Museum oder übers Internet erhältlich (www.juedischesmuseum.de).

hagalil.com / 2005-02-14

 

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